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Fünf Zentner und ein leuchtender Hintern


Schahraseds Geschichten aus tausend und einer Nacht kennt das Abendland seit Jahrhunderten – oder meint zumindest, sie zu kennen. Saddek und Sabine Kebir haben sich des sagenhaften Stoffs nochmals angenommen und „verlorengegangene“ Details rekonstruiert. Zu einer orientalischen Entdeckungsreise verführte ihr Buch auch
Lizzie Pricken


Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem kleinen Café am Rande der Wüste. Draußen brütet die Sonne, und da Sie eben erst hereingekommen sind, klebt Ihnen die Zunge am Gaumen und der feine Wüstensand hat Ihnen Nase und Hirn ausgetrocknet. Gut, daß Sie schon bald Ihren glühenden Durst mit einem Glas erfrischend kühlen Wassers stillen können, sind Sie doch um diese Zeit der einzige Gast an diesem stillen Ort. Denn es ist Ramadan, und allen halbwegs gläubigen Muslimen ist es bis nach Sonnenuntergang verboten, zu essen, zu trinken, zu rauchen, zu schwatzen oder Sex zu haben.

Während Sie mit dem ersten Glas Wasser Ihr inneres Feuer löschen, erzählt Ihnen der Caféhausbesitzer, der geduldig mit einer Karaffe voll diesen kostbaren Nasses neben Ihrem Tisch ausharrt, Sie seien gerade rechtzeitig eingetroffen, um an diesem Abend, dem 26. Tag des Fastenmonats, einer besonderen Begegnung beizuwohnen.

Erschöpft von der langen Reise und zugleich in freudiger Erwartung sinken Sie entspannt auf ein paar weiche Kissen, um gemeinsam mit allen anderen Lebewesen darauf zu warten, daß der riesige runde Schmelztiegel dort am Himmel blutrot am Horizont hinabsinkt, um Raum zu geben für die indigofarbene Sternenleinwand, die sich nun vor Ihrem geistigen Auge aufspannt.

Die Gäste des Abends

Und da kommen sie auch schon durch die offenen Türen geschritten und geflogen, Menschen aus der Umgebung der Jetztzeit und Gestalten aus den phantastischen Erzählungen der Vergangenheit, um sich gemeinsam in einem zeitlosen Moment zwischen Raum und Traum zu begegnen. Einige von ihnen werden Sie vielleicht wiedererkennen, falls sie die Geschichten der geistvollen Schahrased gelesen haben. Sie war jene berühmte Frau, welche die Hochzeitsnacht mit dem grausamen Tyrannen Shahriar nur deshalb überlebte, weil sie aus einer Geschichte 1001 Episoden erfand. Mit ihrem Phantasiereichtum bezwang sie den ungebildeten Herrscher und war quasi nebenbei die Erfinderin der bis heute so beliebten Vorabendserien. Nur waren ihre Geschichten im Vergleich zu den modernen Seifenopern ungleich intelligenter und außerdem wesentlich effektiver, da sie den Bösewicht durch ihre persönliche Aufopferung dazu bringen konnte, keine weiteren Frauen mehr zu köpfen. Somit war sie auch eine große Märtyrerin, wofür ihr sicher ein Ehrenplatz zusteht.

Sie hatte übrigens – wie viele kluge Frauen nicht nur dort und damals – eine geliebte Busenfreundin, ihre ehemalige Sklavin, mit der sie diese schwierige Zeit überstand.
Doch zurück in unser Wüstencafé. Neben den Ihnen bereits bekannten Märchenfiguren dürfen Sie hier heute etwas besonderes erleben, denn zwischen den Anwesenden entspinnen sich diverse hitzige Dialoge gesellschaftsphilosophischer Art. Dies sowie das ungemein sinnliche Ambiente wird auch Ihre ausgedörrten Wahrnehmungsorgane neuerlich zum Leben erwecken. Da tauchen nämlich wunderschöne Wesen aus der Vergangenheit auf, unter anderem der schönste Mann der Welt und aller Zeiten, der das Publikum fast in Ohnmacht fallen läßt und ein leuchtendes Hinterteil (!) sein eigen nennt. In solch ehrenwerter Gesellschaft werden Sie Ihre Reisemüdigkeit gewiß bald vergessen.

Der Teufel im Harem

Außerdem ist da noch der ungleich sympathischere Bruder des Tyrannen Shahriar, Schahsamen, den Sie bestimmt auch noch nicht kennen, da er in den meisten offiziellen Überlieferungen der Rahmengeschichte um die 1001 Nacht schlicht wegzensiert wurde. Mit ihm fing aber in Wirklichkeit der ganze Ärger an, denn er entdeckte als erster, daß in seiner Abwesenheit im Harem der Teufel los war. Nicht genug, daß er eigentlich bereits damit überfordert war, einem Heer von Frauen ihre Kinderwünsche zu erfüllen, mußte er sie auch der damaligen Norm entsprechend mästen: Das weibliche Idealgewicht begann im Altertum bei ungefähr 250 Kilogramm. Seine Lieblingsfrau brachte sogar stolze 400 Kilo auf die wahrscheinlich noch nicht vorhandene Personenwaage.

Als der Sultan Shahsamen eines Abends unerwartet von einer Reise heimkehrte, mußte er zu seinem anfänglichen Entsetzen bemerken, daß Sklaven, die er eigentlich für Eunuchen hielt, es munter mit den meisten seiner Haremsdamen trieben. Nach dem ersten Schock fand er aber bald schon Gefallen daran, ihnen allen beim Liebesspiel zuzuschauen. Er staunte nur ein wenig über die vielen kleinen Fensterchen, die offenbar bereits seine Vorfahren einbauen ließen, um heimliche Blicke in die Frauengemächer werfen zu können.

Sein Berater war natürlich längst über die Umtriebe informiert und eröffnete dem Sultan nach einigem Zögern gar, es sei am schönsten, zwei Frauen beim Liebesspiel zu beobachten. Der Mann war offenbar ein Connaisseur. Stellen Sie sich einmal zwei 250 Kilo schwere Damen heftig keuchend und übereinanderrobbend vor! Nun, andere Zeiten, andere Geschmäcker.

Nachts heiraten, morgens köpfen

Derart geläutert von seiner scheinbaren Allmächtigkeit, macht sich Schahsamen auf den Weg zu seinem Bruder, dem er in einer ruhigen Stunde von seinen Erkenntnissen berichtet. Dieser hält ihn zunächst schlichtweg für einen Schlappschwanz und fällt aus allen Wolken, als er erfährt, daß es im eigenen Harem kaum anders zugeht. Den Rest der Geschichte kennen wir, oder besser gesagt: den unzensierten Teil. Shahriar rächt sich auf seine Art an der Untreue der Frauen, indem er jede Nacht eine andere Jungfrau heiratet und sie am Morgen enthauptet, damit sie keinen anderen mehr lieben kann. Bis er eben an die schlaue Shahrased gerät. Schahsamen hingegen schafft es ohne Therapeutin – nur dank seines Voyeurismus – und verschwindet wohl auch deshalb aus den aktuellen Versionen der Geschichten aus 1001 Nacht.
Auf der arabischen Halbinsel ist dieses Werk bis heute verboten; in Ägypten wurde es in den letzten zwanzig Jahren mehrfach auf den Index gesetzt oder gar öffentlich verbrannt. Ein Grund mehr für das Autorenpaar Sabine und Saddek Kebir, sich auf die Spuren der Urversion zu begeben, wobei sie sich an die orientalische Art des Geschichtenerzählens halten und eigene Vorstellungen in Einklang mit der möglichen Wahrheit bringen. Deshalb gibt es auch weder ein Happy End noch sonst einen Abschluß, es enthüllt sich vielmehr eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte ...

Anarchie von Sozialem und Sexuellem

Seit Ende der 70er Jahre befaßt sich der Algerier Saddek Kebir mit den verschiedenen Fassungen und Übersetzungen von 1001 Nacht und des, wie er meint, „scheinbar anarchischen Gegeneinanders von sexueller und sozialer Ordnung“. In der Tat geht es in diesem Werk vor allem um das ungezügelte sexuelle Potential, das mit Hilfe der Triebe den Gesetzesbruch durchführt und dabei die soziale Rangordnung in Frage stellt. Dabei ist es vor allem die befürchtete Selbständigkeit der Frauen, von der die Männerherrschaft akut bedroht ist.
Dem Autorenehepaar ist es auf provozierende Weise gelungen, eine Brücke nicht nur zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen, sondern auch zwischen regional verschiedenen kulturellen Ausprägungen, indem sie deren ursprüngliche Parallelen aufzeigen. An einer Stelle wird von der historischen Bruderschaft von Muslimen, Juden und Christen gesprochen, die dazu einlädt, diese – wie auch die Schwesternschaft – selbst zu erkunden. Das vorliegende Buch kann Ihnen ein guter Reisebegleiter auf dem Weg durch die menschliche Wüste sein: Willkommen im orientalischen Café!

Saddek & Sabine Kebir : Zwei Sultane. peoples globalization edition, Amsterdam 2002, 22,00 Euro