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Ideologie und Mythos des Sexuellen


Das Update eines linken Ladenhüters

In unserer vorletzten Ausgabe analysierte Georg Klauda unter dem Titel “Genosse Vergewaltiger” den Umgang der autonomen Linken mit dem Thema sexuelle Gewalt. Anlaß war ein heftig umstrittener Artikel der Zeitschrift “Bahamas” gewesen. Wir setzen die Debatte darüber fort mit einem Beitrag von Holger Schatz


Nachdem mit der (Selbst-)Integration der 68er Bewegung der Mythos von der rebellischen Sexualität verblaßte und einem neuen Biedermeier wich, kultivierten diverse avantgardistische Szenen in den 90er Jahren einen Tabubruch, an dem allmählich auch die radikale Linke Gefallen zu finden scheint. Diese “Repolitisierung” des Sexuellen zieht aber offenbar weniger eine aktualisierte Kritik des repressiven Verhältnisses von Sexualisierung und Desexualisierung nach sich, sondern erschöpft sich in der Beschwörung eines scheinbar hegemonialen Tabuisierungsdiskurses; ein Szenario, das sich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit gehörig blamiert. Am Beispiel des Artikels “Infantile Inquisition. Vergewaltigungsdebatten in der Szene: Verdränger werden Verfolger”, erschienen in der Zeitschrift Bahamas, soll dies – Herbert Marcuses Auseinandersetzung mit Freud rekapitulierend – im Spiegel aktueller Tendenzen gesellschaftlicher (De-) Sexualisierung problematisiert werden.

Im Rückgriff auf Freud versuchen die Bahamas-Mitarbeiter Justus Wertmüller und Uli Krug am Beispiel linker Vergewaltigungsdebatten, Mechanismen einer repressiven Sexualabwehr zu entschlüsseln. (1) Soviel Erhellendes dabei zu Tage kommen mag, offenbart der Text an zentraler Stelle einen folgenreichen – gleichsam unerklärlichen – Verzicht auf Ideologiekritik sowie einen undialektischen Rekurs auf 'Natur‘ und 'Triebe‘. Marcuses Versuch einer Historisierung und gesellschaftskritischen (Weiter-) Entwicklung der Freudschen Triebtheorie zielte auf die Überwindung des Konservatismus Freuds, der darin bestand, die Unterdrückung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip als ein starres und damit für die Schaffung und Erhaltung von Kultur und Zivilisation notwendiges Verhältnis zu bestimmen. Aus Sicht Marcuses haben aber die Disziplinierungszwänge der modernen Arbeits- und Warengesellschaft das notwendige Minimum an Triebaufschub ins Unermeßliche gesteigert, während gleichzeitig eine libidinöse Versöhnung von Lust- und Realitätsprinzip, die fast vollständige Reduktion von Triebaufschub möglich wäre: “Unter der Herrschaft des Leistungsprinzips [als die spezifische Form des Realitätsprinzips in der bürgerlichen Gesellschaft, H.S.] werden Leib und Seele zu Instrumenten der entfremdeten Arbeitsleistung; als solche können sie nur funktionieren, wenn sie die Freiheit des libidinösen Subjekt-Objekt, das der menschliche Organismus primär ist, preisgeben.” (2)

Jene Preisgabe gelingt wesentlich über eine Reihe von Teilungen und Reduzierungen der Libido, verstanden als grenzenlose Bedürfnisstruktur des Gesamtkörpers: “Dieser Prozeß erreicht die sozial notwendige Desexualisierung des Körpers: die Libido wird in einem Teil des Körpers konzentriert, wodurch fast der ganze übrige Körper zum Gebrauch als Arbeitsinstrument frei wird.” (3) Die Desexualisierung zieht nun notwendig eine stetige Freigabe und Verhärtung einer narzißtischen “genitalfixierten Sexualität” nach sich – Marcuse spricht von 'repressiver Entsublimierung‘: “Diese Befreiung der Sexualität (und Aggressivität) befreit die Triebe weitgehend von dem Unglück und Unbehagen, welche die repressive Gewalt der bestehenden Welt der Befriedigung erhellen.” (4) Die “Entgiftung des Sexus als Sex” (Adorno) ermöglicht so die libidinöse Stärkung des Bestehenden. Im sich wiederholenden Versuch von Wertmüller/Krug, die “antisexistische” Szene als eine “asexuelle”, “verdruckste” “Gemeinschaft der Unbefriedigten” darzustellen, erscheint das Problem der Desexualisierung als Folge einer verklemmten Moral – was es auch ist – und nicht jener gesellschaftlichen Dialektik, die Marcuse wie auch andere, zum Beispiel Foucault, als deren materielle Grundlage entschlüsselt hatten.

Die auf der Hand liegende Aktualität dieser grob skizzierten “Wendung” Freuds durch Marcuse gründet des weiteren auf dem Problem der gesellschaftlichen Bedingtheit empirischer Bedürfnisse. Analog zur “Großfrage” der kritischen Theorie – warum und wodurch regrediert Bewußtsein zum autoritären Charakter anstatt sich zu emanzipieren – fragte Marcuse: Inwieweit hat sich Herrschaft, warenförmiges und verdinglichtes Denken derart auch in die Triebstruktur eingeschrieben, daß an eine unkritische, verklärende Bezugnahme auf die Triebe “an sich” als Ausgangspunkt der Emanzipation nicht mehr zu denken ist? Entgegen der verkürzten Rezeption durch diverse Heilsverkünder einer 'freien Sexualität‘ verweigerte sich Marcuse der Neigung, dieses Problem nach der einen oder anderen Seite hin aufzulösen. (5) So ließe sich mit Marcuse gegen Marcuse ganz im Sinne Stefan Breuers argumentieren: “Indem die gegen die Verdinglichung Kämpfenden als neue Unmittelbarkeit feiern, was ein Vermitteltes ist, indem sie auf Bedürfnissen insistieren, die schon längst zu falschen geworden sind, (...) forcieren sie nur, was in der Entwicklungsstufe der bürgerlichen Gesellschaft liegt: die Elimination hemmender Reflexio, die Liquidation des nicht-blind reagierenden Ichs, welches in seiner problematischen Situation noch ein Moment der Freiheit konserviert: Das Denken.” (6)

Nun ist es gewiß problematisch, “falsche” Bedürfnisse zu tabuisieren. Genauso töricht ist es aber, sie als gegeben anzunehmen, zu verdinglichen und gar mit subversivem Pathos zu versehen: “Verbannt im Giftschrank der Seele wuchert die Lust. Sie tritt per se aggressiv, grenzüberschreitend, ungesittet auf.” (7) Sicherlich gibt es Gründe, von einer natürlichen Aggressivität der Lust auszugehen. Die entscheidende Frage ist doch aber: Ist die empirisch sich in Phantasie und Handlung manifestierende, aggressive Seite der Sexualität identisch mit dieser “naturhaften” Seite? So müßig es ist, darüber zu spekulieren, so eindeutig sind die Hinweise, daß in den Ausdrücken herrschender Sexualität auch eine sehr spezifische Form der Aggression sich Bahn bricht, die Ausdruck und Folge einer warenförmig und patriarchal geprägten Subjektivität ist. (8)

Dieser Zusammenhang enthüllt sich um so deutlicher, je mehr im Zuge modernisierter Verwertungsbedingungen dem Menschen und damit der Ware Arbeitskraft das Sexuelle gänzlich unvermittelt abverlangt wird, der Zwang zur Sexualität also nicht mehr “nur” im privaten Refugium wirkt. Der dadurch bedingte Normierungs- und Anpassungsdruck wirkt geschlechtsübergreifend, findet aber in den alten Anforderungen an Männlichkeit enorme Korrelationspotentiale vor. Die warenförmigen Mechanismen repressiver Vergleichung, die in den Alltagsdiskursen um Macht- und Verführungspotentiale (gegenüber Frauen), Potenz- und Penisgrößen immer schon reproduziert wurden, verhärten sich, je deutlicher der Zusammenhang zwischen sexuellem und ökonomischem Erfolg bzw. Scheitern wird. Im Haß auf die Frauen und deren Emanzipation, schlußendlich in der Vergewaltigung, sucht das derart narzißtisch gekränkte männliche Subjekt die geforderte Norm, die Macht über Frauen zu erfüllen und (wieder-) herzustellen. – Womit keineswegs die Vergewaltigung hinreichend erklärt, geschweige denn gerechtfertigt ist.

Sexuelle Gewalt ist sicher auch auf Verdrängung und Tabuisierung zurückzuführen. Wertmüller/Krug indes überstrapazieren das Bild einer ins Unbewußte verbannten “aggressiven” Natur der Sexualität und gehen den erbärmlichen, durchaus effektheischenden Rückzugsgefechten religiöser oder säkularer Provenienz auf den Leim. Eine Kritik der herrschenden Desexualisierung müßte aber in erster Linie die Enttabuisierung einer aggressiven “Sexualität” als Moment eben dieser Desexualisierung erkennen.

Es ist geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, daß die gewaltsame Reduzierung der Libido zur genitalfixierten Sexualität diese gerade immer mehr depotenziert. Glaubt man Studien zum Sexualverhalten – und es gibt gute Gründe, das zu tun –, dann wird umgekehrt proportional zum Gerede über sie Sexualität immer weniger praktiziert. Die sexuelle Flaute besiegelt das Ende eines Tages voller Triebsublimierung, an dessen Anfang der Wecker steht. Die durch Herrschaft, abstrakte Arbeit und damit streß- und angstbedingte Empfindungslosigkeit wird entpolitisiert, individualisiert und als Krankheit dem individuellen Gesundheitsmanagement zugeschlagen, während zugleich orgastischer Sex in einer vergegenständlichten und damit die Phantasie einengenden Form zur Norm wird. Umworben von einer Armada geschäftstüchtiger LustprophetInnen sucht die Unlust Heil in der warenförmig angebotenen Steigerung des “Kicks”: Potenzpillen, (S-)experten- und Therapeutentum, Swingerclubs und Sexutensilien sind die Trümpfe einer neuen Unbefangenheit, die einmal mehr von einer ideologisierenden linken “Pro-Sex-Position” (9) den Schein von Subversivität erhält. Zumal gerade durch das diesbezüglich offensive Engagement schwul-lesbischer Szenen die “Pro-Sex”-Attitüde mit der Zurückweisung der Zwangsheterosexualität verbunden zu sein scheint. Seit dem Ende der Unterwerfung des Sex unter das Primat der Fortpflanzung besteht aber auch dieser Zusammenhang nicht mehr.

Quellen

(1) Infantile Inquisition. Vergewaltigungsdebatten in der Szene: Verdränger werden Verfolger, in: Bahamas (Nr. 32, Sommer 2000) Dieser Artikel bezieht sich zunächst konkret auf einer Berliner Vergewaltigungsdebatte, deren konkrete Implikationen im folgenden jedoch nicht Thema sind.
(2) Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M 1977, S. 51.
(3) ebd., S. 52 f.
(4) Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Neuwied/Berlin 1970, S. 96.
(5) Tatsächlich verstrickte er sich in einen Circulus vitiosus, der die (produktive) Widersprüchlichkeit seines Gesamtwerkes ausmachen sollte. Vgl. dazu ausführlich: Zvi Tauber: Befreiung und das “Absurde”. Studien zur Emanzipation des Menschen bei Herbert Marcuse, Gerlingen 1994.
(6) Stefan Breuer: Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmethaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt/M, 1977, S. 237 f.
(7) Wertmüller/Krug, a.a.O., S. 29.
(8) Anstatt die Grundsätze (Nein heißt Nein, Definitionsmacht von Gewalt liegt bei den Frauen) mit dem Stigma der hysterischen Asexualität zu belegen, wären diese als Ausdruck des Wissens und der Erfahrung um diese (Gewalt-) Zusammenhänge zu stärken. Vgl.: Georg Klauda: Genosse Vergewaltiger. Feministinnen im Visier der Linken, in: Gigi. Zeitschrift für sexuelle Emanzipation, Nr.9, Sep./Okt. 2000.
(9) Der Begriff bezeichnet die hedonistisch, provokante Affirmation des Sexuellen unter dem Banner subversiv verstandener 'sexual politics‘. Vgl.: Roswitha Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2000, S. 150.