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Ich sehe das Licht!


„Das ist dein bestes Buch, hej.” – Astrid Lindgren ist tot. Statt eines Nachrufs ein paar Worte zu „Bröderna Lejon-hjärta”, einem ihrer schönsten Bücher, von Stefan Broniowski


Es waren einmal zwei Brüder, die hießen Karl und Jonathan Löwe und lebten vor gar nicht so langer Zeit in Schweden ... Jonathan ist dreizehn und sieht aus wie ein Märchenprinz. Karl, von seinem großen Bruder zärtlich Krümel genannt, ist neun Jahre alt, klein, wenig hübsch, schwächlich und sehr schwer krank. Er weiß, das er bald sterben muß. Und um ihn zu trösten, erzählt ihm Jonathan von Nangijala, dem Land, in das man kommt, wenn man tot ist, dem Land der Lagerfeuer und Sagen, wo man von früh bis spät und sogar nachts Abenteuer erlebe.
Dann kommt alles anders. Jonathan stirbt zuerst, als er bei einem Brand seinen kleinen Bruder rettet, indem er ihn Huckepack nimmt und aus dem Fenster springt. Diese mutige Tat trägt ihm übrigens auch den postumen Ehrennamen „Löwenherz“ ein. In Gestalt einer schneeweißen Taube kommt Jonathan zu seinem Krümel geflogen und erzählt ihm von Nangijala …

… in dem sich eines Tages auch der kleine Karl wiederfindet, weil er zwei Monate nach Jonathan an seiner Krankheit gestorben ist. Jetzt sind die Brüder endlich wieder glücklich vereint, und das Kirschtal in Nangijala ist tatsächlich ganz herrlich. Ein richtiges Abenteuerland für Jungen. Krümel muß nicht mehr husten, er ist gesund, hat ge-rade Beine und kann sogar schwimmen, was er im früheren Leben nicht lernen konnte. Er wohnt mit Jonathan in einem schönen Haus – an der Gartenpforte steht „Die Brüder Löwenherz”! – in einem schönen Garten und hat selbstverständlich sein eigenes Pferd, weil man in Nangijala ohne Pferd gar nicht auskommt.

Alles könnte so schön sein, die Tage könnten mit Angeln und Reiten und Schwimmen und Kaninchenfüttern und hundert anderen wunderbaren Jungensachen vergehen, wäre da nicht das Unheil, das zu einem richtigen Märchen ja schließlich dazugehört. Nangijalas Glück ist nämlich bedroht. Tengil, der grausame Herrscher von Karmanjaka, will das Land mit seinen finsteren Tengilmännern erobern. Seine schlimmste Waffe ist Katla, ein feuerspeiendes Drachenweibchen.

Das benachbarte Heckenrosental ist schon in Tengils Hand, doch unter Führung der Taubenzüchterin Sophia leisten die Leute aus dem Kirschtal, darunter auch Jonathan, Widerstand. Als Jonathan eines Tages von einem geheimen Auftrag nicht zurückkehrt, macht sich Karl auf, um nach ihm zu suchen – und es ist wohl überflüssig, zu sagen, daß das Abenteuer jetzt erst richtig beginnt, und daß es nach manchem Hin und Her mit dem Sieg der Freiheitskämpfer endet. In einer großen Schlacht mit vielen Verlusten wird Tengil geschlagen, und nachdem Katla von Karm, einem Lindwurm, getötet wurde und ihrerseits dieses urzeitliche Ungeheuer tötete, sind Heckenrosental und Kirschtal befreit und alles könnte in schönster Ordnung sein …

… wäre da nicht Jonathans Verwundung, die er von Katlas Feueratem davongetragen hat. Daran muß er nicht sterben, aber er wird nach und nach völlig gelähmt sein. Nun ist es an Krümel, seinen Jonathan zu retten. Wenn Jonathan sterben soll – und das muß er, um nach Nangilima zu kommen, in das Land der Lagerfeuer und Sagen, wo im Apfelblütental gewiß schon ein schönes Haus mit Kaninchenställen und einem Pferd auf ihn wartet –, dann muß sein kleiner Bruder ihn töten. Und am besten sich selbst auch, denn dann kommt er gleich mit nach Nangilima. Also nimmt Karl seinen ganzen Mut zusammen und seinen großen Bruder Huckepack und schickt sich an, von einer Klippe zu springen. Das ist der Schluß der Erzählung.

„Krümel Löwenherz“, sagte Jonathan, „hast du Angst?“ – „Nein … doch, ich habe Angst! Aber ich tue es trotzdem, Jonathan, ich tue es jetzt … jetzt … Und dann werde ich nicht wieder Angst haben. Nie wieder Angst hab ...“ – „Oh, Nangilima! Ja, Jonathan, ich sehe das Licht! Ich sehe das Licht!“

Als „Bröderna Lejonhjärta“ 1973 veröffentlicht wurde, brach ein Sturm der Entrüstung los. „Noch nie ist die Reaktion auf eines meiner Bücher so schnell erfolgt“, sagte die Lindgren, der die Kritik u.a. vorhielt, „daß man die Kinder nicht lehren dürfe, die Welt schwarz-weiß oder gut-böse zu verstehen (...) daß Selbstmord als Flucht nicht geduldet werden dürfe (jedenfalls nicht bei Kindern)” und daß „Märchen und Wahrheit“ nicht „vermischt“ werden dürften. Die aufgeklärte Sozialpädagogik war empört darüber, daß in dem Kinderbuch nicht nur vom Sterben die Rede war, sondern auch noch von einem Leben danach!

„Die anderen Leser reagierten später, denn Astrid Lindgren bekam noch Jahre danach besonders viele Briefe von Erwachsenen, von Müttern und Ärztinnen, die ihr bestätigten, welchen Trost dieses Buch tatsächlich Kindern spendete, die einen Tod miterlebt hatten oder selber krank waren. Eine Ärztin schrieb, Kinder, die sterben müßten, wüßten das genau. Es sei deshalb falsch, wenn Eltern auswichen und sagten, ach, es wird schon wieder gut! Damit verweigerten sie den Trost, der im menschlichen Wort, im Gespräch steckte. Ihr Vorschlag, der Astrid Lindgren sehr berührte: Dies Buch sollte zu einer Art Pflichtlektüre für alle sterbenden Kinder werden.“ (Schönfeldt)

Ein Trostbuch also, aber kein Lügenbuch, denn die Wahrheit, die die Kinder interessiert, findet sich nicht in irgendwelchen Tatsachenbehauptungen, sondern im Ton der Erzählung und im dargestellten Verhalten der Menschen zueinander.

Zu keinem ihrer Bücher wurden der Lindgren so viele Briefe geschrieben wie zu den „Brüdern Löwenherz“: „Das ist dein bestes Buch, hej!” Oder: „Astrid ich muß dich loben! Ich habe viele Bücher gelesen, aber gegen deine kommen keine anderen an.” Oder: „Es ist so schwer, es in Worten auszudrücken, aber alles ist so wunderbar, grausam und schön ...“ – „… so spannend und traurig und lustig.“

Das Wesentliche der „Brüder Löwenherz“ ist die Liebe von Jonathan zu Krümel und von Krümel zu Jonathan. Diese Liebe ist einfach, stark und unüberwindlich. Jeder ist bereit, für den anderen zu sterben und vor allem zu leben. Nichts kann sich zwischen die beiden drängen, sie sind einander genug. Und weil es sich bei einen um zwei – die aufgeklärten Sozialpädagogik würde wohl sagen: vorpubertäre – Jungen handelt, ist diese Liebe frei von aller heterosexuellen Paarungsideologie. Verführung, Fortpflanzung, Machtkämpfe und Neurosen spielen keine Rolle. So rein kann Liebe wohl nur im Märchen sein. Mit „Die Brüder Löwenherz“, ihrem 32. Buch, hatte Astrid Lindgren ihr schönstes geschrieben. Danke, hej.