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In einem Zuge

Bahnhof Berlin-Friedrichstraße, 25. Juni 2009, 11.15 Uhr. Warten auf den RE 1, den Zug, der Outback und Großstadt verbindet. Studierende, Senioren, Schüler und zwei Damen mit Laptops, nuttigem Parfüm und billig manikürten Fingernägeln. Sie platzieren sich günstigerweise gegenüber meiner Sitzgruppe und outen sich durch laute Stimme und sinnfreies Gebrabbel als Anwältinnen – die eine für den Staat, die andere für Private. Unterwegs zwischen Kammergericht Berlin, Amtsgericht Eberswalde und Frankfurt/Oder. Ach, die Robe wurde vergessen? – Macht nichts, so etwas leiht man sich aus. Es gibt offenbar Leih-Roben für Richter und Anwälte.

Daß es recht gut wäre, wenn es auch Leih-Gehirne gäbe, stellen die Damen umgehend klar. Rasch wird ein Fall entblättert – mit allen Details wie Namen oder Anschrift, hör- und sichtbar für die genervten Mitreisenden. Ein junger Mann, Ausbildungsstelle verloren, aus dem Prekariat, möchte nicht bei seinen „Pöbeleltern“ wohnen und begründet dies mit seiner sexuellen Veranlagung. Ja so geht’s freilich nicht im Staate Preußen! Er hat gewagt, sich der Zwangsansiedlung in der elterlichen Plattenbauwohnung zu verweigern, dort nur pro forma polizeilich gemeldet zu sein und in Wahrheit woanders zu leben. Aber dank des lokalen Blockwartes kam alles heraus. Jetzt wurde er auch noch bei der Schwarzarbeit erwischt. Das muß Folgen haben, und welcher Art diese sind, wird rasch im Kolleginnendiskurs erörtert. Zunächst natürlich der Zwang zur Umsiedlung in die patriarchalische Hölle und ein paar Tage Sozialarbeit im Dienste des Gemeinwesens. Doch will der renitente Junge tatsächlich dem Wesen der Gemeinen nicht sofort dienlich sein und am Wochenende den Berliner Christopher Street Day besuchen. Das geht freilich nicht, der soll erstmal lernen, was Disziplin bedeutet.

Ja, der CSD, meint die andere Dame, deren schwarzgefärbtes Haar so wenig mit dem braunen Kostüm harmoniert, den wolle sie ja auch besuchen. Mit dem X, der sei ja Staatsanwalt in Berlin, und seinem Freund. Ja, den X, den kenne sie, meint die Hartz-IV-Vollstreckerin. Den könne man immer fragen, wenn man bei Sex-and-Crime-Delikten mal nicht weiter wisse. Der gehe auch auf den CSD? Das sei ja großartig, mit dem könne man es so richtig krachen lassen! Also 13 Uhr am Samstag vor dem KaDeWe, mit Schampus im Gepäck? Rasch wird das Mobiltelefon gezückt, nur leider gibt es zwischen Karlshorst und Erkner eine blühende Landschaft ohne Handy-Empfang. So ein Pech aber auch! Da wird lieber noch darüber lamentiert, daß es „den Schwulen“ eigentlich verdammt gut gehe in diesem Land. Jetzt seien sie schon diskriminierungsbefreit qua Gesetz, worum unsere heroischen Emanzen viel länger hatten kämpfen müssen. Aber der CSD sei ja ohnehin nur noch Party, von Politik keine Spur. Also müsse man sich einfach damit arrangieren, daß die schönsten Männer schwul seien. Sonst gäbe es doch gar keinen Grund, warum frau noch immer Single sei.

Schließlich erreicht der Bummelzug wieder zivile Sphären mit aufgehübschten Bahnhöfen.