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Crash 68!

Zu den vielen schlechten Nachrichten jetzt auch noch die: Die sexuelle Befreiung war ein Flop. „Noch bevor die ’68er’ es sich in Turnschuhen und selbstgestrickten Pullovern bei den Grünen gemütlich machten, haben Zeitzeugen schon die sogenannte Sexuelle Revolution als großes Mißverständnis beschrieben“, so Heike Friauf in dem von ihr bei Pahl-Rugenstein edierten Band „Eros und Politik“. „Mißverständnis“ ist leicht untertrieben, ist doch bereits Karl Marx’ Bild des „schönen Menschen“ (sprich: des freien, emanzipierten Menschen) eine scharfe Abrechnung mit der Entfremdung im Kapitalismus und drumherumgestrickten bürgerlichen Ideologien. 1969, als die 68er-Bewegung eben das Laufen gelernt hatte, blickte der DDR-Philosoph Wolfgang Harich nach Westen, um in der Schrift „Zur Kritik der revolutionären Ungeduld“ hart mit diesem „neuen Anarchismus“ ins Gericht zu gehen: Es sei „ein kapitaler Irrtum“ der 68er, zu meinen, daß es schon eine revolutionäre Tat wäre, „in diesem Bereich (des Eros’ – Gigi) Neuerungen zu propagieren oder demonstrativ vorzuleben, die gegen die geltenden Konventionen verstoßen.“ Denn abgesehen davon, „daß sich dadurch an der ökonomischen Struktur der Gesellschaft doch nichts ändert, können, solange diese Struktur fortbesteht, die vermeintlich freien Sexualbeziehungen, die man da vorexerziert, immer nur innerbürgerliche, der Immanenz des kapitalistischen Systems verhaftete Zerrbilder dessen sein“, was in einer sozialistischen Zukunft an Liebesglück möglich sei. Harich empfahl den Revoluzzern Friedrich Engels’ Schrift „Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ sowie August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“, um „sich davon zu überzeugen, daß die patriarchalisch-autoritäre Struktur der monogamen Familie, ihr ideologisches Zubehör, die verlogene bürgerliche Ehemoral und deren juristische Fixierungen, in der marxistischen Theorie nicht glimpflicher davongekommen sind, als in den einschlägigen Elaboraten anarchistischer Provenienz“.

Das Rütteln an der Idee, „die 68er“ hätten a) die sexuelle Befreiung erst in Gang gesetzt und b) mit demonstrativem Partnertausch und Drogenpartys dauerhaft gesellschaftsverändernde Erfolge erzielen können, stellt heute indes für weite Teile der Bevölkerung und vor allem fürs (sexual-) politische Establishment eine Herausforderung dar. Eben darum handelt „Eros und Politik“ von „der Freiheit, ein erotisches Leben zu führen“ (Friauf). Der Band versammelt Texte von Marxisten wie dem Soziologen Werner Seppmann, dem DDR-Dramatiker Peter Hacks (1928-2003), zwei Beiträge des Geschichtsphilosophen Leo Kofler (1907-1995) aus der Mitte der 80er Jahre sowie Bilder und Grafiken des Berliner Künstlers Thomas R. Richter. Gerade letztere führen allerdings im „politischen Lese-Bilder-Buch“ zur Präsentation ausschließlich männlich-heterosexueller Obsessionen, was Friaufs Anliegen konterkariert. Wo bleibt da der neue Mensch? Beim Lesen der knapp 160 Seiten sollte man zudem die Grundbegriffe marxistischer Philosophie parat haben.

Aber auch ohne einschlägige Vorbildung wird man mit reichlich Erkenntnis belohnt, wie eine Buchpräsentation der Tageszeitung junge Welt (jW) am 20. Juni in Dortmund verdeutlichte. „Erotik ist im Kapitalismus subversiv, weil es offenbar etwas mit Kommunismus zu tun hat“, so die Denksportaufgabe von jW-Chefredakteur Arnold Schölzel für die Gäste der von ihm moderierten Veranstaltung. Als Seppmann sprach, blieb von den Lebenslügen der 68er ohnehin nicht viel übrig. „Die sexuelle Frage wurde erst zu einem öffentlichen Thema, als die Veränderungen schon abgeschlossen waren. Die veränderte sexuelle Praxis ging deren medialer Manifestation voraus.“ Nicht die „banalen Selbstdarstellungen der Kommune 1“, sondern die Mitte der 50er auf Deutsch erschienenen Kinsey-Reports und andere Untersuchungen haben demnach den großen Kontrast zwischen herrschender Sexualmoral und gelebter Sexualität offenbart. Die Folgen beurteilt Seppmann in milderem Licht, als Friauf. „Es gab im Westen zwar keine sexuelle Befreiung, aber doch so etwas wie eine Entkrampfung. Der kulturelle Bruch war allerdings nicht mit den 68ern, sondern eng mit dem wirtschaftlichen Veränderungen verbunden.“ Das angebliche Wirtschaftswunder brachte nämlich „eine nennenswerte Partizipation der Bürgerinnen und Bürger am wirtschaftlichen und kulturellen Reichtum hervor. Damit waren bescheidene Formen der sexuellen Selbstbestimmung möglich geworden. Bei den Menschen war längst das Gefühl der Normalität des eigenen sexuellen Begehrens und Verhaltens entstanden. Die Menschen konnten nicht mehr eingeschränkt werden. Erste Aktionsgruppen der Homosexuellen entstanden.“ Kinseys in den 50ern selbst in Klatschblättern diskutierte (dort eher skandalisierten) Erkenntnisse zur Verbreitung von Masturbation, Homosexualität und Abtreibung hätten eine „Eisbrecherfunktion“ gehabt, die von der Soziologie im Nachkriegsdeutschland durchaus als ernste Gefahr für Volk und Vaterland gesehen wurde. Seppmann erinnerte an Helmut Schelsky (1912-1984), den bis zur Studentenrevolte „einflußreichsten Soziologen der Bourgeoisie“, der ernsthaft gefordert habe, die Ergebnisse des Kinsey-Reports vor dem Volk geheim zu halten.

„Während der Westen über eine angeblich prüde und lustfeindliche DDR lästerte, wurden dort progressive Fakten geschaffen“, so Seppmann. Bei der Gleichstellung der Frau etwa, aber auf dem Gebiet der Sexualaufklärung gut zehn Jahre eher als im Westen. Laut Seppmann klärten bereits in den frühen 60ern DDR-Medien über die Harmlosigkeit von Selbstbefriedigung auf – da gab’s in der BRD noch nicht mal Oswalt Kolles Aufklärungsfilme. „Als das Sexualverhalten der bundesrepublikanischen Bevölkerung in den 80er Jahren noch unmittelbar mit den intimen Gepflogenheiten der in einer frühsozialistischen Gesellschaft Lebenden verglichen werden konnte, war eine bemerkenswerte Differenz nicht zu übersehen: Mit vier sexuellen Kontakten pro Woche hatten die geschlechtlich Aktiven im Osten doppelt so häufig Sex, wie in der Bundesrepublik, in der ein Selbstbild sexueller ‘Freizügigkeit’ verbreitet war“, so Seppmann im Buch (S. 102). „Die DDR-Bevölkerung stimmte in Sachen Prüderie einfach mit den Füßen ab. Nacktheit war weithin akzeptiert. Wer ohne Badeklamotten ins Meer wollte, suchte nicht erst einen FFK-Stand.“ Erst nach der Wende zogen die Leute plötzlich Badehosen an. „Und das lag nicht daran, daß es zu DDR-Zeiten keine gegeben hätte.“

Die Zukunft? Ist laut Friauf trübe. „Wie weit wir von einer ‘sexuellen Befreiung’ entfernt sind, läßt sich an den Emotionen ablesen, die – heute noch oder wieder – beim Ruf nach der ‘Freien Liebe’ aufwallen. Diese emanzipatorische Forderung wurde lange vor den ’68ern’ von der russisch-amerikanischen Anarchistin Emma Goldmann (1869-1940) geprägt und verkam später zu einer Legitimation für bigottes Durcheinanderschlafen und zur Verschleierung tatsächlicher Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Männern und Frauen. Ganz sicher haben ‘offene Paarbeziehungen’ und andere Beziehungsexperimente der sogenannten 68er bei eingen Teilnehmerinnen ebensoviel Menschlichkeit zerstört, wie diese gegenüber ihrer verkrusteten Elterngeneration gewinnen wollen.“