Klassenfrage
Karlsruher Entscheidungen
werden gern kritisiert, aber selten zu Ende gedacht. In dem Fall offenbar
nicht mal durch alle Richter. Der 13. März 2008 könnte
somit als Tag der Selbstentmündigung des Verfassungsgerichtes in die
Rechtsgeschichte eingehen. Die Richter des zweiten Senates unter Vorsitz Winfried
Hassemers entschieden (2 BvR 392/07), Patrick S. sei zu Recht
wegen fortgesetzten Verstoßes gegen §173 StGB mit mehrfacher
Kindesfolge verurteilt worden. Patrick S. hatte mit seinr leiblichen Schwester
Susan K., die er erst als junger Erwachsener kennengelernt hatte, vier Kinder
gezeugt. Begründung für die Bestrafung des Inzests: Die lebenswichtige
Funktion der Familie für die menschliche Gemeinschaft würde
durch Geschwisterehen bedroht. Außerdem sei das normale Aufwachsen
der Kinder gefährdet. Das ist es nach dem Urteil erst recht.
Die Urteilsbegründung
las sich wie ein Parforceritt durch die Rechtsgeschichte. Moses wurde ebenso
bemüht wie die Konstrukteure des germanischen Rechts im 19. Jahrhundert.
Bei der Suche nach ähnlichen Auffassungen stellte sich jedoch heraus,
daß sowohl in Frankreich und Spanien als auch in China, Rußland
sowie der Türkei Inzest nicht ausdrücklich bestraft wird. Die Mehrheitsfraktion
der Rechtsausleger konnte sich also auch noch als Retter des Abendlandes fühlen,
die das Eindringen östlicher und nicht-germanischer Rechtstraditionen
nach Deutschland verhinderte. Früher hätte man das wohl rassischen
Blutschutz genannt. Ob die Richter ahnten, was sie durch ihre Formulierungen
erkennen ließen? Immerhin war es ihnen ja auch egal, daß die Strafverfolgung
erst damit einsetzen konnte, daß eine zur Verschwiegenheit verpflichtete
Mitarbeiterin eines Jugendamtes nicht Mund noch Tinte halten konnte und so
ein bislang auf gegenseitigem Einvernehmen basierendes Verhältnis durch
Juristenhände beenden half. Somit werden auch die Kinder von Patrick S.
und Susan K. nicht bei ihren Eltern aufwachsen dürfen sie
sind ja keine Familie. Zwei der vier Sprößlinge gelten als geistig
zurückgeblieben, auch das nutzte das Gericht zur Urteilsfindung aus.
Doch ist dies bei Inzest nicht häufiger gegeben als in normalen
Ehen, was jeder Richter in Karlsruhe hätte wissen können, wenn er
sich in der Literaturrezeption nicht eine Gedankensperre für Bücher
nach 1945 auferlegt hätte. Schon ein flüchtiger Blick in die lange
Abstract-Liste auf medline.de hätte geholfen. Außerdem: wozu gibt
es eigentlich Experten und Fachgutachter? Ansonsten bemüht doch jedes
Richterkollegium bei jedem noch so kleinen Furz ein Heer an Gutachtern. Es
sei denn, die Sache ist von vorneherein klar.
Im Umkehrschluß
impliziert dieses Urteil die Möglichkeit, daß zur Verhinderung
von Gebrechlichkeiten des Nachwuchses das genetische Massenscreening aller
Zeugungsfähigen in Deutschland wieder eingeführt werden müßte,
inklusive Heiratsverbote und eventuelle Sterilisierung. Es könnte interessant
werden, brächte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte,
den Patrick S. nun anrufen will, diese Interpretation den deutschen Richtern
und der Öffentlichkeit nahe. Oder wäre diese Konsequenz im Sinne
der urteilenden Juristen?
Auch die Rolle des vielbeschworenen
Zeitgeistes auf die Entscheidungen vorgeblich unabhängiger Rechtsprecher
blieb diesmal wie auch sonst in den Kommentaren außen
vor. Denn in der halbwegs aktuellen medizinischen Fachliteratur wird Inzest
gemeinhin nur im Zusammenhang mit Kindesmißbrauch und Psychopathie gebraucht,
ohne dabei jedoch grundsätzlich in erbbiologische Diskurse zu verfallen.
Beeinflußt durch die seit einigen Jahren gerade von Juristen geförderte
Hatz auf Sexualformen, die das Unschuldstabu der Kindheit und Jugend verletzen,
kam der Zweite Senat zu dem Schluß, man müsse das bestehende Gesetz
vollstrecken. Wieder einmal sahen sich deutsche Richter als Retter des Volkes
und nicht als Hüter der Privatsphäre von individuellen Staatsbürgern.
Allein der vorsitzende Richter selbst, Winfried Hassemer, sah das anders.
Er legte ein Minderheitsvotum vor und bekräftigte in Interviews, daß
erbgesundheitliche Gedanken niemals mehr in Deutschland das Zusammenleben
von Menschen behindern dürften ein mehr als deutlicher Verweis
auf das NS-Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses. Daß
dessen Geist in dieser Gesellschaft inklusive Ärzteschaft weiter virulent
ist, davon wissen viele Behinderte mit vererbbaren Krankheiten ein traurig
Lied zu singen: Von leiblichen Kindern wird ihnen offen abgeraten; vor der
assistierten Reproduktion schreibt die Richtlinie der Bundesärztekammer
für sie eine humangenetische Beratung zwingend vor. Hassemer erklärte
auf Rückfrage (Der Spiegel 12/2008, S. 40) zusätzlich,
fiskalische Gründe könnten nicht angeführt werden,
um das Lebensrecht behinderter Kinder zu verneinen. Klingt gut,
aber auch Hassemer scheint die neuere Fachliteratur auf medline.de nicht gelesen
zu haben.
An Einfältigkeit übertroffen wurde die monokausale Weltsicht von Hassemers rotberobten Erbtheoretiker-Kollegen nur durch Zeitungskommentare, in denen im Rückgriff auf rassenhygienische Literatur suggeriert wurde, der Inzest sei sehr selten und käme nur bei sozial Deklassierten vor letzteres hatte man übrigens aus Hassemers Stellungnahme übernommen. War da nicht was mit Inzest und so bei Sigmund Freud? Unbekannt. Sexualsphäre als Privatbereich? Nicht in Deutschland. Und wenn Inzest wirklich nur beim Prekariat vorkäme was ein Ammenmärchen ist , wieso kommt dann keiner auf den Gedanken, soziale Mißstände zu beseitigen? Antwort: Darum geht es nicht, es ging nur darum, germanische Rechtstraditionen zu wahren oder wiederaufleben zu lassen. Denn niemand schrie auf, als vor zwei Jahren ein bayerischer Prinz es seinem blaublütigen Großvater gleichtat, die eigene Cousine heiratete und der Boulevardpresse freudestrahlend ein paar Wochen später berichtete, es werde sich bald Nachwuchs einstellen. Es kommt eben immer darauf an, welcher Klasse man angehört.