Start

Monster


"Marquis de Sade ist eine der schillerndsten und umstrittensten Figuren der europäischen Kulturgeschichte“, so der Pressetext zu dem de Sade gewidmeten Cross-Genre-Event der Gregor Seyffert Compagnie Dessau, das am 24. Mai im Industriedenkmal Kraftwerk Vockerode wiederaufgenommen wird. „Der literarisch und philosophisch begabte Adelssproß verbrachte sein halbes Leben in Gefängnissen und Irrenhäusern. Er untergrub die strenge Moral seiner Zeit, beschrieb sexuelle Phantasien nicht nur in seinen Romanen, sondern übertrug sie ins reale Leben, indem er sexuelle Macht- und Schmerzorgien feierte.“ Viele sähen „in ihm einen Vorreiter der schwulen Bewegung durch seine Praktiken der gleichgeschlechtlichen Liebe. Von den einen wird er als früher Aufklärer gefeiert, der im Bösen das wahre Gesicht des Menschen erkannte, von den anderen als grausamer Unmensch verurteilt, waren doch die wenigsten freiwillig an seinen orgiastischen Spielen beteiligt.“ – Nimmt man an.

Der Marquis (1740-1814) ist das klassische Sexmonster. Wäre er es auch, hätte er es bei heterosexuellen Praktiken belassen? Stünde er nicht eher im Ruf eines Casanova? Mehr als heute galten Frauen zu Lebzeiten de Sades als sexuell verfügbar, dem Manne untertan. Das Monströse seiner Sexualität bestand neben der Akzeptanz des offenkundigen Zusammenhangs zwischen Lust und Zwang darin, daß er seine Triebe (auch) an und mit Männern auslebte, diese als Sexualobjekt unter mehr oder weniger Gegenwehr wie Frauen benutzte. Ein Sujet, das regelmäßig wiederkehrt in Kunst und Realität: Ein Graf Dracula schert sich nicht um das Geschlecht derer, die er vernascht in einem höchst intimen, blutig-erotischen Akt. In besonderem Maße beförderten Mörder wie Fritz Haarmann, Jürgen Bartsch, Geoffrey Dahmer oder Magnus Gäfken die seit Jahrhunderten latente Konnotation von Psychopathie, gemeingefährlich-homosexueller Triebhaftigkeit und tödlichem Verbrechen. Desgleichen Armin Meiwes, stilisiert zum „Kannibalen von Rothenburg“, zum buchstäblich männerverschlingenden schwulen Monster.

Dieses Motiv flankierte seit jeher die Kriminalisierung Homosexueller. Offen trat sie hierzulande im §175 zutage. Als Ziffernfolge verschwand er zwar 1994 aus dem Strafgesetzbuch. Der Schwule an sich blieb jedoch pervers und: ein Monster.

In den Köpfen, unter Kutten und Talaren hat der §175 nie aufgehört zu existieren. Er ist, was man in der Welt der Datennetze einen Trojaner nennt und das an sich „Grieche“ heißen müßte: Ein Virus, das andere Systeme befällt und dort unbemerkt ein für diese schädliches Programm installiert. Der Trojaner 175 hat nunmehr die Gesundheitspolitik infiziert und sein Programm gestartet: die Rekriminalisierung homosexuellen Verhaltens. Der erste Versuch, parallel zum damals noch geltenden §175, scheiterte Anfang der 1980er Jahre, als der CSU-Rechtsaußen Peter Gauweiler im Rahmen seines Zwangsmaßnahmen-Katalogs HIV-Infizierte und an AIDS Erkrankte internieren wollte, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Seinerzeit galt das Immun-Mangel-Syndrom noch explizit als „Gay related Disease“ und war mangels Therapiemöglichkeiten binnen kurzer Zeit tödlich. Es ging also bei der Internierungsidee um das Urteil „lebenslänglich“ für Schwule, nämlich bis zum Tod. Es war indes SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder, ein Jurist, der, um die Gesellschaft vor Sexmonstern zu schützen, das „Wegsperren, und zwar für immer“ forderte. In diese Richtung weist auch der am 23. März 2007 von der schwarz-roten Koalition eingeschlagene Weg. Sogenanntes Barebacking soll gegebenenfalls strafbar werden: Als versuchte oder vollzogene Körperverletzung, Totschlag oder gar Mord soll die Übertragung des HI-Virus, ob einvernehmlich oder nicht, ob als Risiko bewußt oder billigend in Kauf genommen, mit Haftstrafen sanktioniert werden können. Barebacking jedoch ist schwul – daß es heterosexuelles Barebacking geben könnte, steht außerhalb der Debatte. Dem „Schädling am Volkskörper“ ist damit wieder eine sexuelle Identität zugewiesen.

Denn nach wie vor wird der Schwule gedanklich dort verortet, wo Gewalt, Sex und Tod aufeinandertreffen. Und das nicht allein in Person des männlichen Pädophilen, der sogar, wenn er „eine Kinderseele“ weiblichen Geschlechts „mordet“, noch zum Homosexuellen psychologisiert werden darf.

Beraubt seines juristischen Instruments §175, suchte der Staat in scheinliberalen Gesten das Subversionspotential des Schwulen zu neutralisieren und seine Sexualität zu domestizieren. Für sich genommen mag die „Homo-Ehe“ gescheitert sein, nicht jedoch als sanfter Einstieg in die immer deutlicher spürbare Beschränkung homosexueller Freiheit und Selbstbestimmung. Polizeilich bei Bedarf als „gefährliche Orte“ deklariert, gibt es vermehrt Personenkontrollen in Cruising Areas und wieder Razzien in der Subkultur – getarnt wie eh und je mit Jugendschutz, Drogenverdacht und Zuhälterei.

Und es geht rasant weiter. Ohne gesetzliche Basis, so mußte das Kanzleramt am 25. April im Bundestagsinnenausschuß zugeben, nehmen Verfassungsschutz und BND schon seit Juni 2005 auf bloße Dienstvorschrift des damaligen SPD-Innenministers Otto Schily hin geheime Online-Durchsuchungen privater Computer vor. Das ist de facto der vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärte Große Lauschangriff. Der Bundesgerichtshof hatte diese Praxis erst am 5. Februar 2007 abgelehnt, während Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sie auch dem BKA gestatten wollte. Unterstützt vom SPD-Innenexperten Dieter Wiefelspütz betreibt Schäuble die Verschärfung von Schilys Anti-Terror-Gesetzen (Otto-Katalog). Ziel sind die Erhebung und Vorratsspeicherung personenbezogener Daten inklusive Fotos, Fingerabdrücken, DNA durch Polizei, Ämter, Behörden und Geheimdienste sowie deren freier Austausch.

Es heißt, all das gelte allein Terrorverdächtigen. In Umfragen bejahen bis zu 80 Prozent der Befragten die Pläne. Nur: Wer wird als Terrorist verdächtigt, als Bedrohung der Allgemeinheit? Wer definiert die Kriterien? Die Prognose bedarf keiner Verschwörungstheorie, daß sich die Online-Überwachung, sofern einmal auf die vom BGH verlangte „Ermächtigungsgrundlage“ gestellt, alsbald verselbständigen und in neue „Gefährdungsbereiche“ ausdehnen wird. Warum nicht aufs Barebacking? Wo private Daten gesammelt und gespeichert werden dürfen, geschieht es auch, zumal die Kombination aus DNA- und PC-Screening ganz neue Möglichkeiten eröffnet, volksgesundheits-gefährdender Monster habhaft zu werden. Daß die führenden deutschen Gay-Dating-Portale bereits 2006 vor dem staatlichen Kontrollwahn ins Exil gegangen sind, wird dann keinen amtlichen Profiler mehr daran hindern, auf GayRomeo, GayRoyal oder BarebackCity „vorbeugend“, also auch ohne „konkrete Verdachtsmomente“, das Intimleben Homo- und Bisexueller zu ermitteln. Denn wo der §175 als gesundheitspolitischer Trojaner überlebt hat, ist das schwule Monster von heute der Sexterrorist von morgen.