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Sexualität als Vehikel der Globalisierung


Die Funktion, die der “sexuellen Perversion” im Kampf um kulturelle Authentizität zukommt, zeigen die Reaktionen auf eine Razzia gegen Homosexuelle in Ägypten. Zwar wurde unser Hintergrundbericht bereits vor den Terrorakten des 11. September konzipiert. In deren Kontext vermag er aber unter anderem den Blick dafür zu schärfen, daß die regide Sexualmoral nicht allein religiös oder kulturell motiviert ist, sondern wie alle gesellschaftlichen Verhältnisse eine ökonomische Determinante hat. Von Götz Nordbruch, Kairo

"Die Perversen der Welt führen einen zügellosen Krieg gegen Ägypten!" titelte am 20. August 2001 die ägyptische Wochenzeitung al-Usbu’a angesichts der Demonstrationen, die von Menschenrechts- und Schwulenverbänden vor ägyptischen Konsulaten in mehreren europäischen und nordamerikanischen Hauptstädten organisiert wurden. Gemeint waren damit einige Tausend Demonstranten und ein paar Dutzend Parlamentarier verschiedener Länder, welche gegen das zur Zeit laufende Verfahren protestierten, von dem derzeit 52 ägyptische Männer betroffen sind.

Razzia gegen Homosexuelle wegen Prostitution und Verächtlichmachung der Religion

Im Zusammenhang mit einer Razzia im Queen Boat, einer populären Diskothek auf dem Nil, waren im Mai diesen Jahres zunächst mindestens 55 Männer unter dem Vorwurf des "unzüchtigen Verhalten" und "Geringschätzung der Religion" festgenommen worden. Während die Festgenommen ebenso wie deren Anwälte zunächst über die einzelnen Vorwürfe im Unklaren blieben, berichteten verschiedene Zeitungen bereits in den folgenden Tagen detailliert über die vermeintlichen Hintergründe der Verhaftungen. "Gruppensex im Privaten und Öffentlichen" und "homosexuelle Eheschließungen" standen dabei ganz oben auf der Liste der Anschuldigungen. Bereits in den ersten Zeitungsberichten kam der Vorwurf des "organisierten Satanismus" hinzu. Zwei Angeklagte, ein Ingenieur und ein Arzt, wurden dabei als Köpfe der satanistischen Gruppe präsentiert, die sich nach einem Buchtitel die Eigenbezeichnung "Gottes Krieger" gegeben haben soll. Andere Zeitungen brachten den Fall mit der biblischen Geschichte des Stammes Lot in Verbindung, der als Strafe Gottes für seine sexuellen Ausschweifungen vernichtet wurde.

Ende September erging das erste Urteil gegen einen der Angeklagten, einen fünfzehnjährigen jungen Mann. Er erhielt mit drei Jahren Gefängnis in Verbindung mit schwerer Arbeit die Höchststrafe für "unzüchtiges Verhalten". Mit diesem ungewöhnlich harten Urteil machte das Gericht deutlich, daß es keineswegs bereit sein würde, dem mittlerweile spürbaren internationalen Druck nachzugeben. Anders als im Fall jener 78 jungen Männer und Frauen, die 1997 ebenfalls wegen des Vorwurfs des Satanismus verhaftet worden waren, scheint die ägyptische Justiz diesmal gewillt, ihren Verfolgungseifer auch gegen alle weiteren Inhaftierten durchzusetzen. Die Urteile über die anderen Angeklagten werden für Mitte November erwartet. Die massiven Vorwürfe, die Angeklagten seien mehrfach gefoltert und mißhandelt wurden, fanden bisher keinerlei Gehör bei den Richtern.

Erst in den letzten Jahren hat sich die Anzahl strafrechtlicher Verfolgungen gegen Homosexuelle in Ägypten gehäuft. Nach einer ausführlichen Berichterstattung über den Fall einer heimlichen Heirat zwischen zwei homosexuellen Männern leitete die Justiz im Mai letzten Jahres ein Verfahren ein, welches für ähnliche Aufregung in der Öffentlichkeit sorgte. Bis dahin hatte sich die Repression gegen Homosexuellen in Ägypten relativ in Grenzen gehalten. Erst in Folge der Razzia im Queen Boat häufen sich die Berichte über weitere Festnahmen an bekannten Treffpunkten sowie bei Verabredungen, die über das Internet arrangiert wurden.

Verschwörung der Homosexuellen oder Homosexualität als Verschwörung?


Ein Blick auf die breite Ablehnung und Vorverurteilung, die den Angeklagten im Verfahren um das Queen Boat in der Öffentlichkeit entgegenschlug, macht deutlich, welche Bedeutung diesem Prozess zukommt. Während in den Medien bereits in den ersten Tagen eine zionistische Verschwörung ausgemacht wurde, diskutierten Vertreter des religiösen Establishments aufgeregt über den angemessenen Strafrahmen. Im Mittelpunkt des Interesses standen damit nicht allein die vermeintlichen Sexualpraktiken der Beschuldigten, sondern insbesondere die internationalen Kontakte der "Gruppe". Die Proteste von Mitgliedern des US-Kongresses gegen den Prozeß gaben dafür ebenso Anlaß wie Fotos und Aussagen der Angeklagten, mit denen ihnen Kontakte nach Israel nachgewiesen werden sollten. Immer wieder tauchte der Vorwurf auf, die Gruppe habe sich für ihre satanistischen Zeremonien am Toten Meer und in Jerusalem getroffen. Die regierungsnahe Tageszeitung al-Ahram berichtete bereits einen Tag nach den Festnahmen, am 13. Mai 2001, die "Teufelsanbeter" hätten versucht, "neue Mitglieder für ihren Kult zu werben und forderten sie auf, im Toten Meer zu schwimmen, um von dessen Wasser gesegnet zu werden". Je nach Einkommen, so kolportierte die Wochenzeitung Ruz al-Yussif daraufhin am 17. Mai, müßten die Mitglieder ein- bis dreimal jährlich eine solche Pilgerfahrt unternehmen. Dem vermeintlichen Anführer des Kultes, einem Ingenieur, wurde zudem vorgehalten, man habe bei ihm Fotos von Synagogen und Bilder aus Israel gefunden.

Gerade auch die Proteste der US-Politiker wurden in den Verschwörungstheorien aufgegriffen, welche sich um die Beschuldigten entspannen. Als Teil einer Strategie der amerikanischen Außenpolitik deutete am 22. August die Zeitung Hadith al-Medina die Unterstützung für die "Perversen, die mit aller Macht auf die Zerstörung des Wertesystems, welches die ägyptische Gesellschaft erhalte", abziele. Bereits in ihrer Ausgabe vom 15. Mai hatte Ruz al-Yussif unter Hinweis auf das Buch "Agentur der Krieger Gottes", das bei dem Hauptangeklagten gefunden wurde, Details über diese angebliche Verschwörung verbreitet. Die Homosexuellen, welche "in den USA zu einer Kraft geworden sind, die stark genug war, die jüngsten Wahlen zu beeinflussen", gehörten danach ebenso wie die Zeugen Jehovas zu dem Netz jüdischer Verschwörungen, die darauf abzielen, "die Gesellschaften auseinanderzutreiben, Zweifel an der Religion zu schüren und den Verunsicherten Gelüste einzureden."

"Sexuelle Perversionen" als Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen

Das scharfe Urteil des Richters gegen den 15-jährigen Jugendlichen wird erst vor dem Hintergrund des öffentlichen Eifers verständlich, mit dem die Bestrafung der "Perversen" eingefordert wird. Der von internationalen Schwulenverbänden erhobene Einwand, dass Homosexualität nach dem ägyptischen Gesetz nicht verboten werde, ging in den Diskussionen nahezu unter. Mit dem Verweis auf die ägyptische Verfassung, die die Sharia, das islamische Recht, als Hauptquelle des Gesetzes festschreibt, rechtfertigt man schließlich die Auseinandersetzungen darüber, welche Strafe für das Verhalten der Männer den religiösen Quellen des Islams angemessen sei. Die verschiedenen Einschätzungen über die Ursachen der "Krankheit" spiegeln sich dabei in den diversen Strafmaßnahmen wieder, wie sie von islamischen Geistlichen vorgeschlagen wurden. In einer ausführlichen Dokumentation zum Prozeß befragte die regierungsnahe Zeitung al-Ahram al-Arabi verschiedene Wissenschaftler zu den Hintergründen und Folgen der "Perversion". Neben sexuellem Mißbrauch im Kindesalter könnten, so die in der Ausgabe vom 25. August erschienenen Antworten, eine zu "weibliche Erziehung", "unangemessene Kleidung der Mütter vor den Augen des Jungen" oder schlicht das Fehlen des Vaters in der Familie das Verhalten der Männer erklären. Andere Mediziner nennen Impotenz oder einen hormonellen Überschuß als Ursache von Homosexualität, wobei von einigen zwischen den Ursachen "aktiver" und "passiver" Homosexualität unterschieden wird. Der vorgeschlagene Strafrahmen bewegt sich schließlich zwischen einmaliger Bewährungsmöglichkeit und Tötung im Wiederholungsfall (Dr. Muhammad Abd al-Munim al-Bari), Verätzung des Afters (Dr. Ahmed Shafiq), Verbrennung (Dr. Taha Abu Krisha), lebendigem Begraben unter einer Mauer oder dem Sturz vom "Gipfel eines Berges" (Dr. Abd al-Sabur Shahin).

Angesichts dieser Argumentationen hochrangiger Vertreter aus Medizin, Religion und Justiz schienen die Stellungnahmen einzelner ägyptischer Menschenrechtsorganisationen um so erstaunlicher. Der Generalsekretär der angesehenen Egyptian Organization for Human Rights (EOHR), Hafez Abu Saada, erklärte in einem Interview, man werde sich keineswegs für die Verteidigung der Gefangenen einsetzen. Schließlich, so Saada, gehe es in dem Fall nicht um die Verteidigung von Menschenrechten, sondern um einen Prozess gegen die Verbreitung von Prostitution.

Homosexualität in Ägypten

Über die Hintergründe des Prozesses und vor allem die Hartnäckigkeit, mit der dieser unbeeindruckt von internationalen Protesten fortgeführt wird, gab es in der ägyptischen Schwulenszene einige Diskussionen. Hossam Baghat, Journalist und bis vor einigen Wochen Mitarbeiter des EOHR, veröffentlichte eine Stellungnahme, in der er nicht nur das Verhalten der Menschenrechtsorganisationen kritisierte, sondern den Prozess zudem im Zusammenhang mit anderen Verfahren gegen Intellektuelle als Ablenkungsmanöver der ägyptischen Regierung interpretierte. Neben der "Ablenkung der Öffentlichkeit von der ökonomischen Rezession und den Finanzproblemen der Regierung" sieht er auch in dem öffentlichen Bedürfnis, "die islamischen Werte zu verteidigen" eine Ursache für die allgemeine Hetze. Die überwiegend von Ägyptern betriebene Internetseite GayEgypt.com beschrieb das Verfahren als Beleg für eine "moral panic", die Ägypten gepackt habe. Das "Gespenst McCarthys" würde in den letzten Monaten die Runde machen und alles, was als Abweichung wahrgenommen werde, verfolgen.

Als öffentliches Thema hatte Homosexualität in der modernen ägyptischen Gesellschaft zuvor kaum eine Rolle gespielt. Verschiedene Studien zur Geschichte der Homosexualität in arabischen Gesellschaften verwiesen auf den Unterschied der Konzeptionen von Geschlechteridentität und sexuellem Verhalten im Vergleich zu westlichen Ländern. Während Geschlechteridentitäten in anderen Gesellschaften zunehmend über die sexuellen Beziehungen des Einzelnen definiert werden, ist dieser Zusammenhang für die heutigen Fremd- und Selbstwahrnehmungen in der ägyptischen Gesellschaft kaum von Bedeutung. Gleichgeschlechtliche Beziehungen insbesondere zwischen Männern waren und sind danach jedoch ein gesellschaftlich weitverbreitetes Phänomen: "It is not the existence of same-sex sexual relations that is new but their association with essentialist sexual identitites". Als ein Aspekt im sozialen Gefüge von Macht und Sexualität beschränken sich gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte zwischen Männern bis heute weitestgehend auf Beziehungen, welche nach Alter oder gesellschaftlichem Status asymmetrisch strukturiert sind. Der gesellschaftliche Zwang zur heterosexuellen Heirat wird dabei keineswegs in Frage gestellt. Angesichts der Bindung heterosexueller Sexualität an die Ehe erscheinen homosexuelle Kontakte vielmehr auch als unausgesprochene alternative Option für unverheiratete Männer. Diese Form einer mehr oder weniger verdeckten "functional bisexuality" (Malek Chebel) ermöglicht schließlich homosexuelle Beziehungen, welche neben der gesellschaftlich erwarteten heterosexuellen Ehe praktizierbar scheinen.

Das Tabu, homosexuelle Kontakte öffentlich zu thematisieren, ist dabei ebensowenig wie Geschlechterbeziehungen im allgemeinen eine gesellschaftliche Konstante. Ebenso sehr wie Religion und überlieferte Traditionen bedingt der historische gesellschaftliche Kontext den jeweiligen Umgang mit homosexuellen Beziehungen. Bruce Dunne weist in seiner Darstellung ausdrücklich auf die Offenheit hin, mit welcher homosexuelle Kontakte zwischen Männern bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Marokko wie in Ägypten toleriert wurden. Erst der Einfluß der europäischen Kolonialmächte habe danach im Zusammenwirken mit aufkommenden religiösen und nationalistischen Ideologien um die Jahrhundertwende eine Tabuisierung der Beziehungen initiiert und bekräftigt. Mehr oder weniger offen wurden homosexuelle Beziehungen dennoch auch in der Folgezeit sowohl in arabischer Literatur als auch im Film thematisiert. Ebenso wie in der Literatur Nadjib Mahfuz’ spielt Homosexualität auch in den Filmen Yussif Chahines eine nicht unbedeutende Rolle.

Homosexualität und Authentizität

Die Erklärung der öffentlichen Auseinandersetzungen um den Fall lassen sich insofern kaum allein mit dem Tabubruch halböffentlich gelebter Homosexualität erklären. Auch das Argument, es handle sich um ein Ablenkungsmanöver der Regierung, kann kaum die öffentliche Hetze bis hin zu den Forderungen nach Todesstrafe begründen. Die Reaktionen selbst weisen auf den Zusammenhang hin, innerhalb dessen die Aggressivität des Verfolgungseifers verständlich wird, ohne daß eine initiierende Rolle der Regierung zu vermuten wäre. Homosexualität erscheint dabei nicht allein als moralische Verfehlung, welche durch Besserung des Einzelnen zu korrigieren wäre. Die Integration des Vorwurfes gleichgeschlechtlicher Kontakte in Imaginationen satanistischer Verschwörungen, welche von äußeren Mächten in Ägypten verbreitet würden, stellt den Queen-Boat-Prozess vielmehr in den Kontext allgemeiner Auseinandersetzungen um vermeintliche Bedrohungen, mit denen sich die ägyptische Gesellschaft konfrontiert sieht. Nicht der Einzelne, sondern die Gesellschaft als ganze erscheint dabei als Opfer der "sexuellen Perversionen", wie sie von den Angeklagten personifiziert werden.

Gerade in den Diskussionen um die Folgen der Globalisierung zeigen sich deutliche Parallelen zu Argumentationsmustern, welche in den Reaktionen auf den Prozeß auftauchten. Die Bedrohung gemeinsamer Werte und der Verlust der kulturellen Identität spielt in diesen Kontroversen eine zentrale Rolle. Sexualität ist dabei ein immer wiederkehrendes Thema. Neben den Folgen, die mit der Globalisierung für geläufige Formen der Sexualität in der ägyptischen Gesellschaft einhergehen, geht es dabei vor allem um Sexualität als Vehikel der Globalisierung. Deutlichstes Beispiel für diese Argumentationen sind die mittlerweile unzähligen Veröffentlichungen, in denen jüdische/zionistische/israelische Verschwörungen im Zusammenhang mit Prostitution und Spionage diskutiert werden. In diversen Artikeln und Büchern finden sich Enthüllungen über Versuche des israelischen Geheimdienstes Mossad, mittels jüdischer Prostituierter die Grundlagen der ägyptischen Gesellschaft zu unterhöhlen. Die Verbreitung von Prostitution und Geschlechtskrankheiten wird danach ebenso wie die vermeintliche Existenz satanistischer Gruppierungen als Teil einer kulturellen Kriegführung verstanden, welche keineswegs allein im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt gesehen werden. Die Bedrohung der ägyptischen Kultur und der kulturellen Authentizität werden ausdrücklich nicht auf arabisch-israelische Auseinandersetzungen beschränkt, sondern als Ausdruck übergeordneter Konflikte der Globalisierung gedeutet. Die damit einhergehende Interpretation gesellschaftlicher Konflikte als Teil eines Abwehrkampfes gegen Bedrohungen der kulturelle Authentizität verbindet daher die Wahrnehmungen des Queen-Boat-Prozesses mit Debatten, wie sie sich um den Einfluß von Fastfood-Ketten wie McDonald’s oder um die Amerikanisierung der ägyptischen Gesellschaft im allgemeinen entwickelten.

Angesichts einer solchen Interpretation von Homosexualität als Bedrohung der kulturellen Grundlagen der Gesellschaft wird das nahezu vollständige Fehlen von Argumenten verständlich, in denen ihre Ausübung als Ausdruck individueller Freiheiten thematisiert wird. Die einheitlichen Reaktionen der nationalen wie islamistischen Oppositionsparteien, welche sich mit dem regierenden Establishment über die Erforderlichkeit eines Kampfes gegen Homosexualität als kulturelle Bedrohung einig wissen, spiegeln schließlich das Klima wieder, innerhalb dessen sich gegenwärtigen Kontroversen um gesellschaftliche Konflikte in Ägypten bewegen. Ähnlich wie in den Debatten um vermeintlich pro-westliche Intellektuelle, religionskritische Autorinnen oder Verfasser "pornographischer Literatur" geht es darin weniger um das einzelne Vergehen, sondern um dessen Entlarvung als Symptom für existentielle Bedrohungen der Gesellschaft.



Al-Ahram al-Arabi (25.08.01): "Sei ein Perverser ... und Onkel Sam wird Gefallen an dir finden – der Aufstand der Perversen"

Buchtitel: "Krieg der Prostituierten. Die Frauen der Juden und die arabischen Politiker"
(Muhammad al-Ghita, 1995)