ZensUrsula
Am 20. Juni kamen die
Piraten. Nur zwei Tage, nachdem der Bundestag das Gesetz zur Bekämpfung
von Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen beschlossen hatte, demonstrierten
Mitglieder der Piratenpartei und andere Netz-Initiativen in mehreren deutschen
Städten gegen Zensursula und für ein vom Staat unzensiertes
Internet leider zu spät. Ein Rückblick auf die Ereignisse
der vergangenen Wochen von Martin Lentzen
In der Hauptstadt lief
ein Bundestagsabgeordneter über. Bilder von der Anti-Ursula-Demo vor
dem Berliner Hauptbahnhof zeigen den am gleichen Tag zu der kleinen Piratenpartei
gewechselten langjährigen SPD-Abgeordneten Jörg Tauss in Siegespose
die schwarze Piratenflagge schwenken. Noch als SPD-Abgeordneter hatte Tauss
die im Juristenjargon Zugangserschwerungsgesetz (ZugErschwG) genannte
Regelung bei deren Verabschiedung zwei Tage zuvor, am 18. Juni, im Parlament
abgelehnt. Das ZugErschwG schaffe fragwürdige Kompetenzen und Stellen
beim Bundeskriminalamt (BKA), es implementiere eine Überwachungsstruktur
und hebe die Gewaltenteilung auf. Insbesondere kritisierte Tauss die im Internet
inzwischen Zensursula getaufte Familienministerin Ursula von der
Leyen (CDU) und deren Legendenbildung. Angesichts einer Überwachungstechnik,
die in der Lage sei, Freiheit und Demokratie aus dem Netz herauszufiltern,
resigniere er jedoch nicht vor ministerieller Inkompetenz, so
Tauss an die Adresse der Familienministerin.
Die Abschiedsrede des
ehemaligen SPD-Genossen im Deutschen Bundestag stieß auf eisiges Schweigen.
Selbst einen Höflichkeitsapplaus für fünfzehn Jahre geleistete
Parlamentsarbeit verweigerte die Mehrheit der Abgeordneten Tauss, der, als
exzellenter Kenner der Kinderpornoszene im Netz, allem Anschein nach durch
eine Intrige des BKA in den absurden Verdacht pädophiler Neigungen geraten
war. Bei seiner Durchleuchtung hätten die Behörden Nachbarn
und Leute auf dem Marktplatz (...) nach meinem Sexualverhalten befragt,
berichtete Tauss am 17. Juni im Berliner Tagesspiegel. (Vgl. Das
BKA ist längst Partei und den Schwerpunkt in Gigi Nr. 61,
Mai/Juni 2009). Den Mann, der bei gewissen Themen mehr weiß, als das
BKA erlaubt, bejubelt nach dem Übertritt unterdessen die Internetcommunity.
Unser neuer Held heißt Jörg Tauss, verkündete
die Webseite Zensursula.net, und die Piratenpartei vermeldete stolz: Tauss
1. Pirat im Bundestag.
Tatsächlich hatte
von der Leyen bei den Beratungen zu ihrem Lieblingsprojekt nicht gerade mit
Sach- und Fachkunde geglänzt. Geradezu genüßlich zitierte
schon im April die Illustrierte Stern aus einer internen Mail der in
die Beratungen um das Gesetzesvorhaben involvierten Internetwirtschaft, nach
der das Innenministerium das Projekt bewußt der Familienministerin
zugeschoben habe. Nach Erinnerung mehrerer Teilnehmer soll von
der Leyen anfangs sogar von einer DSL-Sperrung gesprochen und
damit die Abkürzung für schnelle Internetanschlüsse mit dem
für die beabsichtigen Sperrungen bedeutsamen DNS-System verwechselt haben,
also jenem System, das aus Zahlencodes Seitennamen macht, so der
Stern. Ihren Bundestagskollegen veranschaulichte Frau von der
Leyen das Verfahren (...) mit einem Telefon, dessen Stecker aus der
Wand gezogen ist. Man könne eine Nummer wählen, aber werde
nicht verbunden. Doch das ist Käse. Um im Bild zu bleiben: Die geplante
Blockade von ausgewählten Webseiten funktioniert eher wie ein Telefonbuch,
aus dem das BKA als zukünftige Zensurbehörde ein paar Seiten rausreißt.
Die Nummern darauf sind aber nach wie vor zu erreichen, notfalls über
ein paar Klicks und Umwege, die heutzutage jeder 14-Jährige beherrscht,
wußte das Hamburger Magazin.
Von der Leyen zum
Praktikum beim Girls Day verdonnern!
Die offenkundige Unbedarftheit
von Frau Ministerin sprach sich schnell herum. Da hilft nur eins: Ursula
von der Leyen muß am nächsten Girls Day dringend ein Praktikum
machen. Bei Leuten, die sich mit sowas (dem Internet Gigi) auskennen,
lästerte die Chefredakteurin des vom Essener WAZ-Konzerns betriebenen
Onlineportals DerWesten.de. Derweil konstatierte das Hamburger Abendblatt
am 11. Juni: Der Protest wächst und wächst und wächst.
Täglich unterzeichnen neue Internet-Nutzer die (beim Bundestag eingereichte
Gigi) Online-Petition gegen die Sperrung von kinderpornographischen
Internetseiten. Gestern waren es schon fast 116.000 digitale Unterschriften,
und damit ist der Rekord längst gebrochen. Mit ungeahnter Wucht und einer
ganz neuen politischen Macht wehrt sich die Internetgemeinde gegen die Sperrungen,
die in ihren Augen nichts anderes als Zensur sind. Rund 134.000 Unterschriften
wird die Petition schließlich tragen so viel wie keine andere
in der Geschichte der Bundesrepublik.
Geholfen hat es nichts.
Knapp drei Wochen nach der am 26. Mai vom Bundestags-Wirtschaftsausschuß
abgehaltenen Anhörung bei der fast alle geladenen Experten an
dem Vorhaben heftige Kritik übten war die Nummer nach nur drei
Monaten über die Bühne gegangen. Kleine Kompromisse inklusive. Das
Gesetz soll nun vorrangig dem Grundsatz Löschen vor Sperren
folgen und nicht umgekehrt. Personenbezogene Daten von Usern, die zufällig
oder nicht zufällig auf der Stopp-Seite des BKA landen, sollen weder
gespeichert noch automatisch an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben
werden (was zweifellos die Justiz auf Jahre lahmgelegt hätte), und schließlich
soll ein unabhängiges Gremium die allerdings geheimen Sperrlisten
des BKA kontrollieren was in der Konsequenz bedeutet, daß dieses
Gremium ebenfalls geheim tagen müßte. Mit solchen juristischen
Verschönerungen hätten sicher auch die Behörden
in China und im Iran keine großen Probleme. Die SPD, nicht unglücklich
darüber, den lästigen Tauss rechtzeitig losgworden zu sein, kann
damit allemal leben.
Zensur mit
menschlichem Antlitz
Von Zensur mit menschlichem
Antlitz sprach hingegen Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der
Linkspartei im Bundestag, angesichts der geheimen Sperrliste des BKA. Das
Verfahren unterscheidet sich von der Indizierung jugendgefährdender Schriften
(...) dadurch, daß die Vorgaben einseitig von der Polizei kommen,
so Jelpke. Heiko Hilker, Landtagsabgeordneter der Linkspartei in Sachsen und
Mitglied des MDR-Rundfunkrats, warnte im Parteiblatt Neues Deutschland
vor dem Einstieg in eine umfassende Kontrolle des Internets. Die
CDU-Minister, so Hilker, hofften, mit ihrem Gesetz zwei Fliegen mit
einer Klappe zu schlagen: die Internetgemeinde und den politischen Gegner.
Dazu dient das emotionale Thema Kinderpornographie als Einstieg. Das Leid
und die Schändung der Kinder verkürzen sie so nicht. Hilker
zitierte den Chef der Polizeiermittlungsgruppe gegen Kinderpornographie und
Kindesmißhandlung bei der Stockholmer Polizei, der gegenüber dem
Focus gesagt hatte: Unsere Sperrmaßnahmen tragen leider nicht
dazu bei, die Produktion von Webpornographie (! Gigi) zu vermindern.
Ebenfalls im Neuen Deutschland kam Constanze Kurz vom Chaos Computer Club (CCC) zu Wort. Der aufgeweckte Wähler frage sich: Waren denn vor Beginn des Wahlkampfgetöses alle Augen zugedrückt, wurden strafbare Inhalte gar nicht verfolgt, bevor die Zensursula getaufte Retterin sich des Themas annahm? Die CCC-Aktivistin sah in der erfolgreichen Online-Petition gegen das Gesetz die gutbegründete Ablehnung eines Politiksystems, das prinzipienbedingt keine sachlich richtigen Lösungen mehr produzieren kann und kompetente Persönlichkeiten nicht mehr hervorbringt. Die sozialistische Wochenzeitung Unsere Zeit merkte spitz an: Daß mit Kinderpornographie Millionen verdient werden, wird nicht belegt, daß Kinderpornographie hauptsächlich über offene Internetseiten vertrieben wird, darf bezweifelt werden so schlecht ist das Verbrechen nun auch wieder nicht organisiert. Die Tageszeitung junge Welt titelte gar: Placebos gegen Pornos.
Das Schweigen der Lämmer
Während es bei den
lesbisch-schwulen Verbänden in der Debatte um das ZugErschwG auffallend
still blieb, gingen Bürgerechtsverbände gleich im Dutzend auf die
Barrikaden. Das Gesetz sei überflüssig, Sperrungen könnten
bisher ja schon durch die Staatsanwaltschaften und die Kommission für
Jugendmedienschutz (KJM) sowie Ordnungsbehörden erfolgen, hatte
bereits am 3. April die Gesellschaft für Informatik (GI) in Bonn
kritisiert. Der Bielefelder Bürgerrechtsverein FoeBuD fürchtete,
daß die Zensurliste in Zukunft auf Webseiten von politischen Organisationen,
Gewerkschaften oder allzu kritischer Presse ausgeweitet werden könnte.
Ungewöhnlich genug, formulierte selbst der Bundesrat laut Bundestags-Drucksache
16/13385 erhebliche rechtsstaatliche Bedenken. User, die auf die
Stopp-Seite des BKA gelangten und dort erfaßt würden, könnten
angesichts der Ächtung der Kinderpornographie durch die Gesellschaft
(...) massive Rufschädigungen erleiden. Die systematische
Strafverfolgung sei daher nicht angebracht und offenbar
auch nicht die eigentliche Intention des Gesetzentwurfs gewesen,
denn sonst hätte es, so der Bundesrat, nahegelegen, dem Nutzer
eine nicht herstellbare Verbindung vorzutäuschen (! Gigi),
statt ihn durch das Stopp-Schild zu warnen, was User zur Säuberung
des Rechners veranlassen könnte und damit zur Vernichtung
potentieller Beweise, bevor die Polizei kommt.
Wie beruhigend: Der Bundesrat denkt mit und das BKA tut es auch. Dessen Direktor Jürgen Maurer formulierte es laut Parlaments-Pressedienst Heute im Bundestag (HiB) vom 27. Mai so: Wir können einschätzen, was Kinderpornographie ist, und was nicht (...) Wir sind nun mal die beste Stelle um alle Informationen zu bündeln.