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Wenn die Nachbarin dreimal klingelt


Mit einer konzertierten Aktion betreiben die bürgerlichen Parteien in der deutschen Sexualpolitik derzeit einen erneuten gewaltigen Rechtsruck: Die von ihnen geförderte „Kinderschänder”-Hysterie wird im Bundestag zur Verschärfung des Sexualstrafrechts nicht etwa mißbraucht, sondern optimiert. Eine Lageeinschätzung zum gegenwärtigen Kampf der Großen Koalition bei ihren Vorstößen für mehr Disziplinierung und Überwachung der Sexualitäten gibt Ortwin Passon

Beseitigung von Grundrechten als bürgerlichen Abwehrrechten gegen das Gewaltmonopol des Staates („Otto-Katalog“), Ersetzen der „Versorgungsmentalität“ durch noch mehr „Eigenverantwortung“ und finanzielle „Selbstbeteiligung“ beim Ausverkauf sozialer Sicherungssysteme („Riester-Rente“, Hartz-Konzept, Rürup-Kommission), Veruntreuung bereits kassierter Sozialabgaben durch Umverteilung von unten nach oben, indirekte Beteiligung am US-„Staatsterrorismus“ (Überflugrechte) und Verteidigung Deutschlands am Hindukusch (Wehrminister Struck) – etwa 95 Prozent der Wahlberechtigten stimmten solchen Ausbeutungsszenarien rechter Parteien bei der letzten Bundestagswahl bereitwillig zu. Was lehrt das den verantwortungsvollen Demokraten: Richtig: Mit diesem Volk kann man noch viel mehr machen.

Folgerichtig steht seit dem Jahreswechsel nun mal wieder die Verschärfung des Sexualstrafrechts auf der Tagesordnung von Schwarz-Rot-Grün: Seit sechs Monaten arbeiten CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam intensiv an der gesetzgeberischen Kanalisierung der durch sie und ihre angeschlossenen Medienanstalten zuvor geschürten „Kinderschänder“-Hysterie. Ein Antrag und zwei Gesetzesentwürfe, die dem Bundestag vorliegen, zielen auf die Verschärfung des mit dem irreführenden Titel „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ überschriebenen dreizehnten Abschnitts des Strafgesetzbuches (StGB).

Wer schützt uns vor der CDU?

Ein zweiseitiger Antrag (BT-Drs. 15/31) der Christdemokraten vom 5. November 2002 forderte die Bundesregierung auf, ein „Forschungsprojekt für eine länderübergreifende Evaluation sozialtherapeutischer Maßnahmen für Sexualstraftäter im Strafvollzug in Auftrag zu geben.“ Infolge des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 160) ist § 9 des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) dahingehend neu gefaßt worden, daß „ein Gefangener in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt“ wird, wenn er nach den §§ 171 bis 180 oder 182 des StGB zu mehr als zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden ist und seine sozialtherapeutische Behandlung „angezeigt“ ist. Obwohl deren Wirksamkeit „als erbracht anzusehen“ sei, fehlten, so meint die Union, „grundlegende länderübergreifende Untersuchungen zur Wirksamkeit einzelner Behandlungsmethoden“.

„Furchtbare Verbrechen aus jüngster Zeit, die zum Teil von einschlägig vorbestraften Personen begangen worden sind, haben deutlich gemacht, daß der Schutz der Allgemeinheit vor schweren Straftaten der Verbesserung bedarf“, steht nicht etwa in einer Strafanzeige gegen Mandatsträger der Regierungsfraktionen, sondern im Vortext des von CDU/CSU tagesgleich eingebrachten Gesetzesentwurfes (BT-Drs. 15/29) zum Schutz der Bevölkerung vor Sexualverbrechern und anderen Ganoven. Das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl. I S. 3344) wird von ihr als unzureichend empfunden, weil diese bei Erwachsenen, „die extrem gefährlich sind, bisher jedoch erst eine gravierende Straftat begangen haben“, und „bei Heranwachsenden ... generell ausgeschlossen“ ist. Datennetzkontrolle „bei allen Straftaten“ des sexuellen „Mißbrauchs“ von Kindern sowie der Herstellung und sogar der Verbreitung von Kinderpornographie sollen gewährleistet, „zu geringe“ Strafrahmen ausgeweitet und das Recht zur Entnahme und molekulargenetischen Analyse von Körperzellen „gegen den Willen des Betroffenen zu Zwecken künftiger Strafverfahren“ ermöglicht werden. Und wie? Ganz einfach, indem die Sicherungsverwahrung „ohne einen durch das Tatgericht ausgesprochenen Vorbehalt nachträglich anzuordnen“ auch bei Heranwachsenden erlaubt würde, „sofern Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommt“, durch Telekommunikationsüberwachung und die Erweiterung des Katalogs der Anlaßtaten für eine DNA-Analyse. Auf 17 Seiten eine prima Steilvorlage für die konservativen Regierungsfraktionen, die ebenfalls die Lufthoheit über den Stammtischen und in der „freien Presse“ behalten wollen.

Rot-Grüne Leichenschau

„Die Reform des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches ist mit dem Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 164, 704) nicht zum Abschluß gekommen“, drohen daher Spezialdemokraten und Bündnisgrüne in ihrem nicht minder scharfen „Gegenentwurf“ (BT-Drs. 15/350), obwohl sie darin einräumen, daß mit ihren bisher fabrizierten Verschärfungen kriminalisierte Handlungen an „widerstandsunfähigen Personen“ Kindern und Jugendlichen „nicht wirksam bekämpft werden.“ Sie wollen daher im Prinzip dieselbe „Fortentwicklung“ wie die Union, haben sie aber nochmals umformuliert, um einige Daumenschrauben ergänzt und so als etwas Eigenes am 28. Januar 2003 ins Gesetzgebungsverfahren gebracht: Wenn es nach ihnen geht, sollen neben dem StGB in 14 und der Strafprozeßordnung (StPO) in drei Punkten auch viele andere Rechtsvorschriften schärfer gefaßt werden. Unter anderem das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz, um – lachen Sie nicht! – auch bei aufgefundenen Leichen eine DNA-Analyse zur Identitätsfeststellung durchführen zu können. Das klingt heiter und verletzt nicht, doch viele Details haben als längst überwunden erklärtes Gedankengut in sich.

Dieser vierundzwanzigseitige (!) „Folterkatalog“ ist Teil des am 29. Januar 2003 vom Bundeskabinett beschlossenen „Aktionsplans zum Schutz von Kindern und Jugendlichen“, den Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) und Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD) in einer gemeinsamen Pressemitteilung unter ihre Schützlinge gebracht haben: „Vor allem der Bereich der Anbahnung von Kontakten zu Kindern ... soll strafrechtlich wirksamer erfaßt werden“, aber „auch der Bereich der Prävention und Intervention“ nimmt „einen großen Stellenwert“ ein, womit sich die Normierenden „insbesondere an Kinder, Eltern, Multiplikatoren, die Polizei, die Justiz und die Tourismusbranche“ wenden. Wie das in der Praxis aussehen soll, erklärt – im Internet – die Justizverwaltung an phantastischen Beispielen.

Schluß mit lustig!

Das Highlight rot-grüner Disziplinierungsabsichten ist jedoch die Erweiterung von § 138 StGB (Nichtanzeige geplanter Straftaten): „Sexuelle Beziehungen im Rahmen von Liebesbeziehungen zwischen älteren und Kindern, etwa einem 13-jährigen Mädchen und einem Jugendlichen, sollen nicht von der Anzeigepflicht erfaßt werden“, wohl aber zwischen einer 13-Jährigen und einer Volljährigen. Dazu soll das Denunzieren nicht nur Psychotherapeuten und Erziehern erleichtert werden, wie die Ausnahmeregelung des § 139 StGB (Straflosigkeit der Nichtanzeige geplanter Straftaten) vorsieht: „Die Nachbarin, die glaubhaft erfährt, daß ein Kind in der Nachbarschaft vom Vater regelmäßig sexuell mißbraucht wird, muß etwas unternehmen: Dies kann die Anzeige bei der Polizei oder beim Jugendamt sein, muß es aber nicht. Sie kann ebenso die Mutter des Kindes informieren oder etwa das Kind in ‘kritischen’ Zeiten, wenn es etwa allein mit dem Täter ist, zu sich einladen usw. Kann sie weiteren Mißbrauch nicht verhindern, kommt es entscheidend darauf an, daß sie sich ernsthaft bemüht, weiteren Mißbrauch zu vermeiden.“ Wenn nicht, wandert sie womöglich selber in den Knast. Auch „Flitzern“ soll es an den Kragen gehen: „Bisher ist eine DNA-Analyse in Fällen exhibitionistischer Handlungen (§ 138 StGB) zum Zwecke künftiger Strafverfahren nicht möglich, da es sich nicht um eine Straftat von erheblicher Bedeutung handelt. Nach der vorgesehenen Änderung von § 81g StPO wird das anders sein.“ Selbst Scherzbolden sollen neue Straftatbestände das Handwerk legen: „Der Täter inseriert im Internet und bietet Kinder für sexuellen Mißbrauch an. Unerheblich ist grundsätzlich, ob er das Angebot ernst gemeint hat oder nicht. Erscheint es als eine ernsthafte Anzeige und nicht nur als ‘Witz’, hat er sich grundsätzlich strafbar gemacht.” (Alle Hervorhebungen: Gigi)

Fachverbände sind entsetzt

Blockwarte als neues Instrument der Rechtspflege? Für soviel gesundes Volksempfinden gab‘s Saures aus „Fachkreisen“: „Erreichen wir jetzt ein neues Niveau unsachlicher und unseriöser Sexualstrafpolitik in Deutschland?“ fragt beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Sexualität und Recht in Hamburg: Regierung und „Opposition“ setzten 15.000 angezeigte Fälle mit konkreten Taten gleich und suggerierten damit eine relativ hohe Fallzahl. Aufschluß über tatsächliche Fälle geben jedoch nicht Zahlen über Anzeigen inklusive Falschverdächtigungen, sondern über konkrete Verurteilungen, die aus den statistischen Erhebungen des Bundeskriminalamtes (BKA) hervorgehen, wonach die Anzahl sexueller Gewaltdelikte stabil bis rückläufig sei und es demnach in Deutschland heute nicht mehr Sexualstraftäter gebe als vor 20 oder 30 Jahren. Die sensationslüsterne Verwertung einzelner Fälle, deren sexueller Hintergrund dem billig und gerecht denkenden Durchschnittsdeutschen schon als extrem erscheine, fördere jedoch eine durch Medien „gefühlte“ Zunahme. Aufgrund falscher Verdächtigung oder haltloser Beschuldigung angezeigte Personen, deren Täterschaft sich oftmals nicht erweisen ließe, würden die rechtsstaatlich verankerte Unschuldsvermutung ausgehebelt und die so Denunzierten zunehmend gesellschaftlich geächtet und existentiell ruiniert.

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