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Rosa nicht noch Himmelblau

Kennerinnen der Szene sprechen von 99 Prozent. Neunundneunzig Prozent, die dann zur Arbeit gehen, wenn die allermeisten längst Feierabend haben. Neunundneunzig Prozent, die keine andere Existenzgrundlage haben als die Sexarbeit. Neunundneunzig Prozent, die vielleicht nichts gegen Prostitution hätten, wenn es eine Alternative zu ihr gäbe. Zwischen willkürlicher Polizeigewalt inklusive Folter und Vergewaltigung auf der einen und Ignoranz auf der anderen Seite müssen nicht nur Transsexuelle ihren Weg finden und gehen, der oft in menschenunwürdige Lebensumstände und quasi immer in gesellschaftliche Isolation mündet. Über Geschlechterverhältnisse und -identitäten in der Türkei Koray Yilmaz-Günay

Wo Sex, Gewalt und Verbrechen zusammenkommen, ist die Auflage sicher – und sind die selbsterklärenden Schlagzeilen der Tageszeitungen immer schon vorher fertig gewesen: „Wieder Transen-Terror in XY“. So oder ähnlich – meistens aber so – wird in den türkischen Medien über Transvestiten und Transfrauen berichtet. Zeitweise vergeht kaum ein Abend, an dem die Spätnachrichten nichts über sie zu berichten hätten. Dabei wird als „terroristisch“ von Menschen gesprochen, die gegen die Verletzung ihrer elementarsten Rechte vorgehen. Kaum eine Nacht, in der nicht eine verschleppt, geschlagen oder vergewaltigt wird. Statistiken darüber, wie viele in den letzten Jahren starben, liegen nicht vor. Dabei wäre das Zählen zumindest an Orten wie Istanbuls Autobahnstrich an der E5 leicht, wo Reporter nach Unfällen oft schneller vor Ort waren als die Ambulanz oder die Gerichtsmedizin. So versteht sich, daß im öffentlichen Bewußtsein Gewalt dort anfängt, wo Ungleichbehandlung angeklagt wird; wer sich wehrt, muß selbst schuld sein.

Druck ablassen (un-)möglich

Die Gesellschaft in der Türkischen Republik ist nicht homogen, auch wenn seit der Staatsgründung ihre Heterogenität im wesentlichen zerstört wurde. Es sind die „Türken“, die auf Nichttürken Druck ausüben, wie es sunnitische Muslime sind, die auf nicht-sunnitische Muslime und Nichtmuslime Druck ausüben. Allzu spürbar ist immer noch der Zwang, eine homogene Gesellschaft herzustellen, der nach westeuropäischem Vorbild aus einem „Volk“ mit einer Religion und einer Sprache besteht. So fortschrittlich die Reformen unter Mustafa Kemal Atatürk waren, so fremd sind sie einem großen Teil der Bevölkerung noch heute. Die Demarkationslinien in punkto Akzeptanz/ Ablehnung von Laizismus, Frauenemanzipation, Demokratisierung und vieler anderer Themen verlaufen dabei nicht nur zwischen Arm und Reich oder Stadt und Land. In der Konkurrenz mit den Kurden und Armeniern, mit dem EU-Beitrittsprozeß, mit der Rolle des Militärs und der allgemeinen Menschenrechtssituation scheint die Trans-Gender-Frage, wenn überhaupt, erst sehr nachrangig Platz zu finden – auch innerhalb schwuler und lesbischer Zusammenhänge. Da sind westeuropäische Medien nicht anders gepolt als Menschenrechtsorganisationen in der Türkei.

Die Konstruktion von Maskulinität ist dabei untrennbar von einer gewissen Form der Nationalität und der Religiosität. In der Moschee vergewissert Er sich seiner Virilität nicht anders als im Staat, im Café, beim Wehrdienst oder im Fußballstadion. Der türkische Mann ist Muslim. Der türkische Mann ist Sunnit. Aber vor allem liebt der türkische Mann sein Vaterland. Er hat immer eine Ehre zu verteidigen; wer mag da im Einzelfall sezieren, ob es dann gerade die maskuline ist, die muslimische oder die türkische? In sein Selbstverständnis, das kaum Platz läßt für Andere, passen dabei weder Transfrauen noch Transmänner. Denn der türkische Mann muß vor allem eines können: sich kopieren, mehr werden. Kann er nicht zeugen – oder weigert sich gar, indem er sich kastrieren läßt –, kann er gar nicht Mann sein.
Ethnizität, Religion, Geschlecht, vor allem aber Geschlechtseindeutigkeit sind neben vielen anderen Merkmalen in den Köpfen der „normalen“ Menschen nicht voneinander zu trennen , das sollte man sich stets aufs neue klarmachen. Daß sich eine Lesbe mit ihrer sexuellen Identität herumschlägt, weil sie sich damit herumschlagen muß, heißt nicht, daß eine nicht-lesbische Frau das auch tut. Dieselbe Lesbe problematisiert ja eventuell auch nicht die Konstruktionsbedingungen ihres „Frau“-Seins auf die Art, wie es Transidente tun müssen. Der Identitäten-Marathon, den Menschen zeitlebens absolvieren müssen, die „anders“ sind, betrifft die Zuschauer nicht in dem Maße. Auf das Thema dieses Artikels bezogen bedeutet das zum Beispiel, daß es dem Patriarchen vollkommen egal sein kann, wen er penetriert. Er ist die Herrschaft. Ihm gereicht selbst noch zum Vorteil, daß er seinen Kumpels erzählen kann, er besorge es sogar Geschlechtsgenossen.

Bist du schwul – oder Mann?

Wo nach westeuropäischen Identitätskonzepten Homosexualität attestiert werden müßte, braucht der türkische Mann sich keine Sorgen zu machen. Ganz ähnlich der Situation in den katholischen Mittelmeeranrainern entscheidet nicht das Geschlecht der Partnerin oder des Partners über die „sexuelle Orientierung“, sondern die Rolle, die der Betreffende in der Interaktion einnimmt. Insertiver Analverkehr schadet einem Mann als Mann beispielsweise nicht. Seine Geschlechtsidentität bleibt unberührt. Anders rezeptiver Analverkehr: Wer sich penetrieren läßt, kann nicht Mann sein, dann doch eher Frau, schwul oder eben – realistischer betrachtet – ... Loch.

Wer langsam den Eindruck bekommt, hier gehe etwas nicht mit rechten Dingen zu, weil doch Äpfel mit Birnen verglichen werden, irrt nicht. Und hat doch auch nicht Recht. Denn auch für das beginnende 21. Jahrhundert läßt sich konstatieren, daß selbst die überwältigende Mehrheit der „Schwulen“ in der Türkei sich zunächst „im falschen Körper“ fühlt. Denn wer als Mann Männer begehrt, ist nicht homosexuell, sondern „Frau“. Transsexualität und Homosexualität werden oft praktischerweise gar nicht erst begrifflich differenziert.

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