Milieuschaden
Gemeinhin
wird nicht ganz zu Unrecht davon ausgegangen, daß die
juristische Behandlung männlicher Homosexualität in der DDR bis
1968 nicht derart brutal ablief wie in der BRD. Nicht zu vergessen ist jedoch,
daß es neben der Verfolgung durch Polizei und Justiz auch eine voyeuristische
Begutachtung der Homosexualität durch die Wissenschaft gab. Ein Beispiel
rassenhygienischer Sexualitätsstudien aus der DDR von 1966 schildert
Florian Mildenberger
Im
Gegensatz zum landläufigen Vorurteil, wonach die DDR die Entnazifizierung
der wissenschaftlichen Eliten bevorzugt betrieben habe, ist zu bemerken, daß
dies zwar auf die Gesellschaftswissenschaften, nicht aber auf Medizin beziehungsweise
Genetik zutraf. Hier verließen namhafte Forscher allenfalls aufgrund
ideologischer Konfrontationen mit den Lehren sowjetischer Genetiker (Lyssenko)
die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) oder die DDR und übernahmen Lehrstühle
in der BRD. Markantestes Beispiel war Hans Nachtsheim, der 1948 die Humboldt-Universität
verließ und Leiter des Max-Planck-Instituts für vergleichende Erbbiologie
in West-Berlin wurde. Aufgrund des Trends der Abwerbung von Ost nach West
akzeptierte die DDR an verantwortlichen Forschungsstellen schließlich
Personen, die bis zum Hals in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt
waren. Die Genetik kommandierte Hans Stubbe, die Psychiatrie dominierte Karl
Leonhard, der sich vor 1945 an der Hungeranstalt Gabersee und
unter Karl Kleist in Frankfurt/Main bewährt hatte. Beider wissenschaftlicher
Ziehsohn war übrigens Günter Dörner, der noch in den 1970er
Jahren Thesen zur Homosexualität im besseren Deutschland
verfocht, die im Westen schon in den 1960er Jahren aus dem wissenschaftlichen
Diskurs verdrängt worden waren. Zentrum der sozialistischen humangenetischen
Forschung war die Charité in Berlin. Hand in Hand agierten hier beispielsweise
die Direktoren der Frauenklinik (Kraatz), Kinderklinik (Dieckhoff), Nervenklinik
(Leonhard), Gerichtsmedizin (Prokop) und experimentelle Endokrinologie (Dörner),
als es 1966 um die Ergründung des menschlichen Intersexismus ging. Gemeinsam
mit ihrer Kollegin Regine Witkowski hatte die Ärztin Rosi Zabel in Ostberlin
Chromosomenstudien bei Intersexualität initiiert und bedurfte
tatkräftiger Unterstützung [1] . Die Direktoren der einzelnen Klinikabteilungen
steuerten Probanden bzw. Krankengeschichten, sowie eigene Untersuchungen bei.
Gemäß der alten rassenhygienischen Diktion wurden sämtliche
eruierbare sexuellen Deviationen mit untersucht. Dabei wurde erst gar nicht
begründet, was Homosexualität mit Intersexismus zu tun haben sollte,
statt dessen erfolgte die Erstellung eines Konnexes zwischen Transvestitismus
und Homosexualität: So werden bei Homosexuellen transvestitische
Neigungen vorwiegend bei den aktiv weiblichen zu finden sein, bei männlichen
hingegen besteht dieser Wunsch eher bei den feminin erscheinenden passiven[2].
Die Verknüpfung des Intersexismus mit der Homosexualität läßt
nur den Schluß zu, daß die Autorin Rosi Zabel und indirekt
die sie fördernden Wissenschaftler weiterhin die Homosexualitätsstudien
des in der DDR vergötterten Richard Goldschmidt für zutreffend erachtete
[3] . Daß diese im Dritten Reich durch Theo Lang
[4] perfektionierte Lehre eben gerade durch die in der Einleitung der
Abhandlung erwähnten Chromosomenstudien widerlegt worden war [5] , focht
die Autorin nicht an. Die mit der Verwendung der Goldschmidtschen Lehre verbundene
Akzeptanz der These von der Angeborenheit der Homosexualität und der
Notwendigkeit einer rassenhygienischen Begutachtung erwähnte Zabel mit
keiner Silbe. Daß insbesondere ersteres der von den Staatsorganen oft
bemühten These von der Homosexualität als bürgerliches
Laster und Milieuschaden diametral zuwiderlief, hatte keinerlei
Konsequenzen. Die genetische Forschung durfte offenbar unberührt von
den sozialistischen Realitäten da weiter machen, wo man 1945 durch ungünstige
Umstände von der Weiterentwicklung deutscher Forschung unterbrochen worden
war. Höhepunkt der völligen Negierung des nationalsozialistischen
Terrors stellte aber die Präsentation eines wissenschaftlichen Unikums
dar: Der seltene Fall einer laktierenden Mamma beim Manne [6]
war nicht das Ergebnis eines besonders günstigen sozialistischen Milieus,
sondern Folgeerscheinung einer Entmannung aufgrund homosexueller Betätigung
im Dritten Reich, gepaart mit falscher Hormonbehandlung. Der Proband ruinierte
seine Gesundheit noch zusätzlich durch Alkohol- und Medikamentenmißbrauch.
Daß der Grund hierfür eventuell in der Kastration begründet
sein könnte, kam der Autorin nicht in den Sinn. Statt dessen betonte
Zabel allein die wissenschaftliche Bedeutung des Falles: Die Tatsache
einer Milchproduktion beim Manne, wie wir sie im vorliegenden Fall demonstrieren
konnten, darf zunächst einmal als Beweis einer Geschlechtsunabhängigkeit
der Laktation angesehen werden ... Unsere bei dem Patienten durchgeführten
zytogenetischen Untersuchungen erbrachten erwartungsgemäß keinen
Hinweis auf das Vorliegen einer Chromosomenstörung ... [7]
Die Autorin schloß ihre Studie im übrigen mit der Forderung nach einer eindeutig geschlechtlichen Zuordnung von Kindern, sobald der Arzt Anzeichen von Intersexualität entdecke[8] . Normierung der Sexualitäten schien das oberste Prinzip ärztlicher Kunstfertigkeit zu sein. Gedruckt wurde die Studie im übrigen vom rassenhygienisch hoch erfahrenen Gustav-Fischer-Verlag in Jena, dem aus kosmetischen Gründen ein VEB vor den Namen gesetzt worden war. Dahinter das zu allen Zeiten gleich gebliebene Firmenmotto: semper bonis artibus.
Fußnoten nur in der Printausgabe