Start

Kognitive Verzerrungen

Wie sich kognitive Verhaltenstherapien von sogenannten Kindesmißbrauchern gestalten, ist kaum einem Laien bewußt. Folgende Dokumentation soll einen kleinen Einblick in die Methodik vermitteln. Nicht weg-, sondern hingeschaut hat Sebastian Anders

Eines der verbreitetsten Bücher zum Thema ist Günther Deegeners „Sexueller Mißbrauch: Die Täter“. Es soll Therapeuten auf Therapiegespräche vorbereiten. Dem ersten Teil liegen zehn Interviews mit wegen sexuellen Mißbrauchs inhaftierten Männern sowie einem Psychiatrisierten zugrunde. Nur sechs sind vollständig abgedruckt. Hinweise darauf, daß Deegener und den Interviewern außer den Schilderungen der Männer andere Informationen wie Gerichtsakten oder Schilderungen möglicher Opfer zur Verfügung standen, fehlen.

In Teil zwei widmet sich Deegener der Interpretation. Dabei konzentriert er sich zum Teil auf die Aussagen eines „Herr III“ genannten Inhaftierten. Herr III. wurde zu einer Haftstrafe wegen Mißbrauchs seiner Stieftochter L. verurteilt. Die Sexualbeziehung begann so: „Als L. 10 Jahre alt war, hat sie mir mal meine Hand zwischen die Beine geführt, ich hab’ die Hand zurückgezogen, so getan, als ob es ein Versehen gewesen wäre.“ Als L. in die Pubertät kam, kam es zu sexuellen Handlungen: [...] Da plötzlich kam L. rein, ‘Zu Dir wollte ich’, da war plötzlich so eine Art gegenseitiges Einverständnis, ich hab’ sie so gestreichelt, Rücken, Brust, und ich hab’ angedeutet, daß es auch schönere Möglichkeiten gebe, daß es zwischen den Beinen noch schöner sei [...]“ L. meinte, er solle es „mal versuchen“. Sie soll das als „sehr angenehm“ empfunden haben. Es entwickelte sich eine sexuelle Beziehung bei der die Aktion mal von Herrn III., mal von L. ausging. Dann zeigten sich familiäre Spannungen. Auf der einen Seite bestand ein „Kleinkrieg“ zwischen L. und ihrer Mutter. Auf der anderen Seite befand sich Herr III in einem Rollenkonflikt als Vater, Ehemann und Liebhaber der Tochter. Wie Herr III. berichtet, ging das sieben bis acht Monate so, bis sich L. „immer mehr gesträubt“ habe. Es stellten sich Kontaktschwierigkeiten und schulische Probleme ein, bis L. wegen Hyperventilation in ein (psychiatrisches?) Krankenhaus eingeliefert wurde. Herr III wurde alkoholabhängig und machte eine Therapie. Der weitere Verlauf ist unklar. Herr III wünscht sich, „wieder Vater für L.“ sein zu können und verwahrt sich gegen den Ausdruck „sexueller Mißbrauch“, meint aber auf Nachfrage, daß er „eine schwierige Situation für die ganze Familie“ zur Folge hat.

Anhand der Interviews widmet sich Deegener ausführlich etwas, das er Verantwortungs-Abwehr-Syndrom (VAS) nennt. Die Männer (er nennt sie Täter und Mißbraucher, nicht Klienten) würden ihre Handlungen bagatellisieren, verleumden und verlügen. Sie verzerren die Realität, es fehle ihnen an Empathie, sie stellten Anschuldigungen als Ergebnis des Drucks von Polizei, Sozialarbeitern oder Jugendamt dar, behaupteten, einvernehmliche sexuelle Handlungen seien keine Gewalt etc. Laut Deegener gilt es, das VAS der Klienten zu durchbrechen, ihre Lügen zu enttarnen, ihnen die Handlungen als Gewalt begreiflich zu machen und die schwer traumatisierenden Folgen anzuerkennen. Wie dies geschieht, dokumentiert der Folgeabschnitt anhand selektiver Reaktionen Deegeners auf Herrn IIIs Aussagen. Dazu zitiert er ihn: „Es kam auch zu Kontakten mit meinem Penis, aber nur äußerlich, sie wollte auch Verkehr haben, aber ich hatte Angst wegen zu großem Penis. Von meiner Seite aus war viel Zärtlichkeit im Spiel“ Deegener: „Es ist verständlich, wenn manche Therapeuten diesen Mann schütteln wollen mit den Worten: ‘Ich glaub’, sie sind nicht ganz dicht!’“ Dem Klienten müsse u. a. folgendes „konfrontativ vermittelt“ werden: „Warum er vielleicht auch schon Folgesymptome des sexuellen Mißbrauchs (sexualisiertes Verhalten) umdeutet als ein primäres Wollen“, „warum er so wenig Empathie und Einfühlungsvermögen aufbrachte, die Abwehr, die Angst und den Ekel der Tochter vor sexuellem Mißbrauch zu erkennen“, „warum er seine Tochter so stark entpersonalisiert und sie damit zum (Sexual-) Objekt seiner Bedürfnisse wurde“, „warum er das vermeintliche ‘Wollen’ der Tochter nicht hinterfragte und ihr so die Reife unterstellte, wie ein Erwachsener sexuellen Handlungen freiwillig zustimmen zu können“. Es gelte zu hinterfragen, „inwieweit hinter diesen Aussagen eine Vielzahl von Verleugnungen, Verharmlosungen und Schuldverschiebungen stecken“. Dazu gehörte u. a.: „Der Mißbraucher will ‘Kontakte mit dem Penis’ vielleicht auf Berührungen mit dem Penis im Scheidenbereich reduzieren, obwohl vielleicht auch oraler und analer Verkehr erfolgte oder aber die Tochter angehalten wurde, ihn zu masturbieren“, „der Mißbraucher verneint durch die Aussage: ‘sie wollte auch Verkehr haben’ gleichzeitig seine Strategien und Maßnahmen der Überredung und Geheimhaltung“, „der Mißbraucher wies neben seiner vermeintlichen ‘Zärtlichkeit’ gleichzeitig gegenüber der Tochter viele bedrohliche und gewaltförmige Verhaltensweisen auf“, „der Mißbraucher verursachte bereits bei seiner Tochter mit dem Eindringen des Penis starke Schmerzen, und erst ihr Schreien und Weinen brachte ihn zur ‘Einsicht’ über seinen zu großen Penis [...]“

Die Schilderungen der Klienten klingen im wesentlichen konkludent und wahrhaftig. Vor den Rückwirkungen auf Therapeuten warnt Deegener: „Das starke Verantwortungs-Abwehr-System (VAS) der sexuellen Mißbraucher sowie deren damit verbundene Tendenzen zur Aufwertung ihres Selbstbildes können im Verlauf der Therapie dazu führen, daß auch Therapeuten schrittweise und unmerklich in diesen Prozeß der Bagatellisierung hineingezogen werden.“

Zuletzt soll dem Therapeuten der Weg zur Denunziation offen stehen. Deegener gibt vor, nach dem Prinzip „Hilfe statt Strafe“ zu handeln. „Dies bedeutet aber nicht, daß ich in spezifischen Fällen nicht doch den Weg einer Anzeige gehen muß, um den Mißbrauch beenden zu können.“ Und: „Häufig ist es wichtig, daß der Täter auch in der direkten Begegnung mit den Opfern die Verantwortung für den sexuellen Mißbrauch übernimmt, seine Schuld zugibt, das Opfer von Schuld freigibt und die Erlaubnis und Ermutigung gibt, jedwede weitere Form von sexuellem Mißbrauch öffentlich machen zu können.“

Bliebe anzumerken, daß zwei der sechs Inhaftierten beziehungsweise Psychiatrisierten möglicherweise Opfer von Fehlurteilen sind.