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Kleine Freunde

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München, Ende Oktober: Für Polizei und Presse ein großer Fahndungserfolg: von „Kinderporno-Ring“ und „Kindesmißbrauch“ war die Rede. Stutzen mußte der geduldige Leser beim Hinweis, die Beschuldigten hätten sich als Selbsthilfegruppe getarnt.

Betroffen ist (auch) die Münchner Pädogruppe, eine mit langer Tradition. Bis zu seiner Auflösung unter den Fittichen des VSG (Verein für sexuelle Gleichberechtigung), hat sie seit Jahren in Münchens Schwulenszene keine Bleibe mehr. Da sowohl das schwule Zentrum „SUB“ als auch der Verein schwul/lesbischer Historiker(innen) ihr einen Raum fürs monatliche Treffen verweigerten, traf sich die Gruppe zuletzt in Räumen der Humanistischen Union (HU). Eingebunden ist sie in den überregionalen Zusammenschluß der AG Pädo, die früher mit dem 1997 aufgelösten Bundesverband Homosexualität (BVH) assoziiert war und seit 1997 zur Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS) gehört. Der Polizeizugriff wurde nicht mit dem Verdacht auf konkrete Verstöße gegen das Sexualstrafrecht begründet (die dem einzelnen nachzuweisen wären), sondern dem Verdacht auf „Bildung krimineller Vereinigungen“ (§ 129 StGB). Nach dieser Logik wären alle Schwulengruppen vor 1994 ebenfalls „kriminelle Vereinigungen“ gewesen.

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Aus einem Durchsuchungsbeschluß im Rahmen der Münchner Aktion: „Aufgrund der bisherigen Ermittlungen besteht der Verdacht, sich als Mitglieder der „Pädo Selbsthilfe- und Emanzipationsgruppe München“ regelmäßig im xxx in der xxxstr. xxx zu treffen, um dort ihren pädophilen Neigungen nachzugehen. Dabei gilt die Bezeichnung als Selbsthilfe- und Emanzipationsgruppe lediglich als Vorwand, um nach Außen das Ausleben pädophiler Neigungen zu verschleiern. Die ... Treffen dienen dazu, gleichgesinnte Personen kennenzulernen und Kontakte zu schaffen. Darüber hinaus wird besprochen, wie man sich vor Strafverfolgungsbehörden schützen und wie man Bilder, Filme und Dateien mit kinderpornographischem Inhalt wirkungsvoll verstecken bzw. verschleiern kann. ... die regelmäßigen Treffen dienen außerdem dazu, weitere private Treffen, welche zumeist in den Wohnungen der Beschuldigten stattfinden, zu vereinbaren, bei denen kinderpornographische Bilder und Filme angeschaut und ausgetauscht werden ... Neben dem Austausch kinderpornographischen Materials dienen die regelmäßigen Gruppentreffen auch dazu, sich gegenseitig Kinder zu vermitteln, die den jeweiligen Beschuldigten zu Mißbrauchszwecken zugeführt werden sollen.“ Das Durchsuchungsprotokoll (insgesamt 37 Positionen) weist u.a. aus: „Lustspielzeug“ (2-mal), „Zettel mit Hinweis auf Sternartikel vom 4. 11.“, „Karton mit Gedichten über sex. Mißbrauch von Kindern“ und eine „Diskette ‘Volksfeste’“.

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Spiegel online wußte es, aber nicht so genau. Schon vor Jahren habe die Stadt Frankfurt am Main ein Treffen der AG Pädo verboten. Stimmt und stimmt nicht. Das Treffen im Mai 1997 fand statt (die Verbotsverfügung kam zu spät), die AG, bis dahin lose mit dem BVH verbunden, mußte sich wegen dessen Auflösung neu orientieren, seitdem ist sie Fachgruppe der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS). Denkwürdig auch noch im Jahre 2004 ist die Begründung der Stadt Frankfurt am Main in der Verbotsverfügung vom 7. 5. 1997. Nach Zitaten aus Info-Texten der AG heißt es: „Die Anschauungen sind ... mit den herrschenden ethischen Anschauungen nicht vereinbar. Da zu befürchten ist, daß aufgrund der in der Einladung genannten Tagesordnung auch bei der Veranstaltung am 10. und 11. 05. 1997 gleiche oder ähnliche Meinungen vertreten werden, ist eine Gefahr für die öffentliche Ordnung vorprogrammiert. Derartige Anschauungen sind inakzeptabel und müssen daher zu einem Verbot der Veranstaltung führen.“

Der BVH betonte gegenüber der Stadt Frankfurt am Main (15. 5. 1997): „In der Tatsache, daß ‘Meinungen vertreten werden’, ‘eine Gefahr für die öffentliche Ordnung’ zu sehen, spricht dem demokratischen Grundgefüge unseres Landes Hohn. Es dürfte wohl ohne Vorbild sein, daß eine Verwaltung für sich in Anspruch nimmt, zwei Säulen des Grundrechtskatalogs des Grundgesetzes, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, außer Kraft setzen zu können, weil bestimmte Meinungen als ‘inakzeptabel’ eingestuft werden.“

Erst nachdem der BVH die Stadt vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt verklagt hatte, bequemte sich die Stadt zu einer überraschenden Stellungnahme (1. 10. 1997): „Die AIDS-Hilfe Frankfurt am Main e.V. stellt von ihr angemietete Räume regelmäßig Selbsthilfegruppen von Homosexuellen oder Pädophilen zur Verfügung; die Arbeit dieser Selbsthilfegruppen wird auch durch das Jugendamt und das Stadtgesundheitsamt der Stadt Frankfurt am Main generell unterstützt.“

Unter Hinweis auf diese gegenüber der Verbotsverfügung eine grundsätzlich andere Haltung offenbarenden Aussage erklärte sich der BVH zur Einstellung des Verfahrens bereit. Prompt schob die Stadt die Erklärung nach, die Unterstützung von Selbsthilfegruppen sei die „Beschreibung des zum Zeitpunkt der Abfassung des Schriftsatzes gegebenen Ist-Zustandes, dagegen keine programmatische Erklärung“.

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Warum jemand pädophil wird, wissen wir nicht“, zitierte das TagesAnzeiger-Magazin (Zürich) am 18. 1. 2003 die Sexualforscherin Sophinette Becker (Frankfurt am Main). Und da sie hinzufügte: „Wenn fünf Sexualwissenschaftler privat zusammensitzen und einer schneidet das Thema Pädophilie an, bricht innerhalb kurzer Zeit heftiger Streit aus“, sei Frau Becker (die sexuelle Übergriffe ausdrücklich ablehnt) mit weiteren Ansichten zitiert.

„Pädophilie ist ein in der Sexualforschung ziemlich vernachlässigtes Gebiet.“ „Nicht alle, die pädosexuell aktiv werden, sind wirklich Pädophile.“ „Bei den Praktiken strukturiert Pädophiler [= Männer, die ausschließlich pädophil sind] überwiegen Streicheln und Masturbation ... Insgesamt machen Pädophile mit Kindern sexuell deutlich weniger als das, was Erwachsene miteinander tun. Von sexuellen Mißbrauchern fühlen sich strukturiert Pädophile meilenweit entfernt. Die häufige Betonung, daß sie nichts Gewaltsames täten, ist keine Schutzbehauptung, sondern meistens wahr.“

Wolfram Setz