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Gemeinsam gegen Mörder und Brandstifter

In Moskau soll im Mai nach den Plänen von Lesben- und Schwulenorganisationen eine „Love Parade“ stattfinden. Während die Behörden unter dem Vorwand „der permanent angespannten Verkehrslage im Stadtzentrum“ ankündigten, den Umzug wahrscheinlich nicht zu genehmigen und die Orthodoxe Kirche ihn lediglich kategorisch ablehnt, drohte der Leiter der Zentralen geistlichen Verwaltung der Muslime Rußlands, Talgat Tadschuddin, Mitte Februar 2006 indirekt: „Der Prophet Mohammed hat aufgerufen, Homosexuelle zu töten, weil ihre Tätigkeit zum Aussterben der Menschheit führt.“ Es werde Massenproteste geben und die Teilnehmer hätten damit zu rechnen, verprügelt zu werden. „Alle normalen Leute werden so handeln.“ Der Unmut könne „noch wesentlich drastischere Formen annehmen, als die Kundgebungen gegen die umstrittenen Mohammed-Karikaturen“, zitierte die Internet-Zeitung Rußland aktuell Tadschuddin. „Eine nicht-traditionelle sexuelle Orientierung ist ein Verbrechen vor Gott.“
Am 20. März nahm Angelika Hassani im Namen des für Geschlechterdemokratie und Menschenrechte sowie gegen Antisemitismus, Islamophobie und Homophobie eintretenden muslimischen Hamburger Vereins „Hatun“ die Drohungen des Muftis zum Anlaß für einen nachfolgend im vollen Wortlaut dokumentierten „Appell zur Verständigung“.

Die Nachricht über die Aufrufe zu Gewalt und Mord an Lesben und Schwulen des russischen muslimischen Gelehrten Tadschuddin haben viele Menschen – insbesondere Homosexuelle auch hier in Deutschland – mit Entsetzen, Abscheu und Sorge erfüllt. Dadurch sind Mißtrauen und Vorbehalte gegenüber Muslimen gewachsen.

Die Stimmen aus der Menschenrechts- und Antidiskriminierungsarbeit, die sich sowohl gegen Homophobie als auch Islamophobie wenden, werden es künftig noch schwerer haben, zur Vermittlung zwischen den einzelnen Gruppen und für ein friedliches Miteinander einen Beitrag zu leisten: vor allem jedoch dann, wenn wir Muslime uns wie bislang unserer Verantwortung entziehen und zu solchen Ereignissen schweigen!

Wie ist dieses Schweigen zu erklären, ohne es zu rechtfertigen? Ist es sinnvoll, nach den Gründen für das Schweigen zu fragen, um so zu einem Bewußtsein zu gelangen, welches uns hilft, Wege zu einem sinnvollen, verantwortungsbewußten Engagement zu finden? Wir meinen: Ja!

Oder reicht es doch aus zu hoffen, daß sich aus einem Ignorieren dieser Konflikte keine „größeren“ Probleme für unser Zusammenleben hier ergeben?
Wir dürfen nicht so naiv sein zu glauben, daß die verheerenden Haß und Gewalt stiftenden Signale solcher Aufrufe keinerlei Einfluß auf unser Leben hier haben können. Sie vergiften auch hier nachhaltig die gesellschaftliche Atmosphäre und steigern Mißtrauen, Vorbehalte und Aggression auf allen Seiten.

Auch die Morde und Gewaltexzesse an Homosexuellen in verschiedenen – darunter muslimischen Ländern – tragen mit dazu bei, daß gerade Muslime auf der ganzen Welt abgeschreckt und eingeschüchtert werden. Dies geschieht mit dem Ziel, eine Atmosphäre der Angst zu schaffen, die es künftig noch schwerer machen wird, die Tabuisierung von Homosexualität unter Muslimen zu durchbrechen.

Es drängt sich die Frage auf, inwieweit diese Gewalt- und Haßaufrufe gezielt dazu dienen, die wachsende Unglaubwürdigkeit von bestimmten traditionellen Lehrmeinungen und ihren Vertretern sowie ihre immer größer werdende Erklärungsnot gegenüber muslimischen Gläubigen zu verdecken.

Wir meinen, daß sich in diesen Eskalationen auch der Versuch von reaktionären bis konservativen muslimischen Theologenkreisen zeigt, von der eigenen Schwäche, der schwindenden Legitimation und dem damit einhergehenden Autoritätsverlust – gerade unter den jungen Generationen von Muslimen – abzulenken. Es ist auch der Versuch, einerseits von der wachsenden Kluft der Lebenswirklichkeit von Muslimen abzulenken und andererseits den Wünschen der überwiegenden muslimischen Mehrheit nach mehr Freiheit, Demokratie und Menschenrechten und deren Zuwendung zu einer zeitgemäßen, vernunftbetonten Auslegung des Islam entgegenzuwirken.

Repräsentanten vom Schlage eines Tadschuddin versuchen mit den Mitteln der rassistischen Demagogie und der Einschüchterung, ihren eigenen wachsenden Autoritätsverlust zu stoppen. Es ist also Ausdruck eines Machtkampfes von reaktionären, demokratiefeindlichen Kräften innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gegen die Mehrheit der Gläubigen auf der ganzen Welt und der Bevölkerungen in den muslimischen Ländern selbst. Es ist also nicht der vielbeschworene „Clash of Civilizations“ sondern ein „Clash inbetween Civilizations“, der Kampf innerhalb der Kulturen zwischen den jeweiligen nationalistischen, reaktionären und den demokratischen, freiheitlichen Kräften.

Ausdruck hiervon ist auch die Debatte um eine Leitkultur in Deutschland, die versucht, einen fundamentalen Gegensatz zwischen Islam und Demokratie und westlichen Werten zu behaupten und dafür im Diskurs den reaktionären muslimischen Stimmen die Deutungshoheit über alle demokratischen muslimischen Stimmen gewährt.
In ihrer Demagogie versuchen Repräsentanten der reaktionären muslimischen Seite, bestimmte Gruppen wie Homosexuelle exemplarisch für „den Westen“ zu sehen und für die Probleme der Menschen – insbesondere der Muslime in Europa – verantwortlich zu machen. Sie spielen dabei bewußt mit den lang gehegten Ängsten vor Identitätsverlust und den Ängsten und Vorurteilen gegenüber dem Fremden, also den jeweiligen Gruppen, die sie zum Feindbild erklären, seien es Juden, Homosexuelle oder auch Ideen und Werten wie der Demokratie und den Menschenrechten.

Um diesem Teufelskreislauf aus Gewalt, Demagogie, Einschüchterung, Angst und Tabuisierung zu durchbrechen, brauchen wir laut vernehmbare, deutliche muslimische Stimmen, die sich diesen Mördern und Brandstiftern entgegenstellen. Initiativen, welche über einen allgemeinen Appellcharakter gegen Gewalt und für Versöhnung nicht hinauskommen, bleiben an der Oberfläche und damit letztlich wirkungslos, wenn sie uns nicht dazu führen, diese durch die Wahrnehmung einer konkreten Verantwortung zu ergänzen.

Wenn wir nur dann aktiv werden, wenn es um Diskriminierung oder Gewalt gegen Muslime selbst geht, werden wir unglaubwürdig und wir werden uns gesellschaftlich noch stärker isolieren. So dürften die wenigsten Muslime wahrgenommen haben, daß es auch in der Schwulen- und Lesbenszene entschiedene Stimmen gab und gibt, die sich gegen den „Einbürgerungstest“ von Baden-Württemberg ausgesprochen haben, weil er fremdenfeindlich, migrantenfeindlich, muslimfeindlich ist. In Sachen Antidiskriminierung wären wir Muslime gut beraten, uns auf Lernprozesse einzulassen, die zum einen uns selbst, aber darüber hinaus auch allen Menschen in dieser Gesellschaft zugute kommen.

Gewalt ist nicht allgemein oder abstrakt. Gewalt hat Namen und Gesichter. Gewalt ist nicht anonym. Sie betrifft Gruppen von Menschen und Einzelne. Deswegen müssen wir uns konkret zu den von Gewalt betroffenen Menschen in Beziehung setzen. Letztlich bedeutet dies, in die persönliche Begegnung zu gehen. Denn was homophobe Gewalt und Diskriminierung wirklich ist, was sie in ihrer ganzen Tragweite bedeutet, können wir nur von Schwulen und Lesben selbst erfahren. Und nur dann können wir von und mit Ihnen lernen, wie wir gemeinsam diese Gewalt überwinden und beseitigen können.

Gleichzeitig liegt darin die einzige Chance, das gegenseitige Mißtrauen und die Vorurteile zu überwinden, Vertrauen zu schaffen und auf diesem Wege auch unsere muslimischen Erfahrungen von Gewalt und Diskriminierung als hetero- und homosexuelle Muslime ins Gespräch zu bringen.

Es gab in der Vergangenheit immer wieder Gesprächsangebote von Schwulen- und Lesbenverbänden an Muslime. Die Bereitschaft von muslimischer Seite, sich darauf einzulassen, blieb jedoch zumeist zögerlich, ausweichend, abwehrend bis verweigernd. Wir finden, dies muß sich dringend ändern und es wird höchste Zeit, daß nun auch vonseiten der Muslime, ihren Verbänden und Vereinen konkrete Angebote, Initiativen zu Begegnungen, und Gesprächen für ein Kennenlernen ausgehen.
Außerdem gibt es vieles, was wir Muslime von Lesben und Schwulen lernen können: sowohl von Ihrem Kampf als Minderheit für gleiche Rechte und Akzeptanz, als auch von Ihrem Engagement für die Aufklärung und Prävention von HIV/AIDS, um den sich in erster Linie und maßgeblich Homosexuelle verdient gemacht haben. Schließlich ist von HIV/AIDS eine schnell anwachsende Zahl von Muslimen sowohl weltweit als auch hier in unserer Stadt Hamburg betroffen.

Gelegenheiten, unsere Solidarität und Gesprächsbereitschaft zu zeigen, gibt es viele: Wir können diese Gelegenheiten aber auch selbst schaffen, wenn der Wille und die Einsicht in die Notwendigkeit endlich da sind.