Gutes
Uelzen, böses Antalya
Ein
minderjähriger Inhaftierter wird Opfer einer grausamen Gewalttat. Mithäftlinge
vergewaltigen ihn mehrfach. Sie foltern ihn und zwingen ihn danach zum Selbstmord.
Die Bedingungen des türkischen Untersuchungsgefängnisses sind menschenunwürdig,
der Jugendliche teilt sich mit 31 weiteren Männern eine Zelle. Was falsch
ist? Es handelt sich um zwei Fälle. Vergewaltigung, Folter und Mord geschahen
am 11. November 2006 in der Jugendstrafanstalt Siegburg. Indessen wartet Marco
Weiss seit Ostern 2007 in Antalya auf seinen Prozeß. Wo das rassistische
Ressentiment den Foltermord verblassen läßt, vergessen deutsche
Politiker plötzlich die selbst verschärften und geplanten Gesetze
und entdeckt das deutsche Volk ein Herz für seine Nachwuchsvergewaltiger.
Gedanken über Deutschlands liebsten Kinderschänder machte
sich Olaf Apel
Seit Ostern dieses Jahres
sitzt der 17jährige Marco Weiss in einem türkischen Gefängnis.
Dem Schüler aus Uelzen wird vorgeworfen, am 10. April 2007 während
des Urlaubs in Antalya eine 13jährige Britin sexuell mißbraucht
zu haben. Deutsche Politiker entrüsteten sich zunächst und stellten
mitunter die EU-Reife der Türkei in Frage, während diese die beleidigte
Leberwurst spielte bis hiesige Juristen feststellten, daß auch
in Deutschland der Fall strafrechtlich relevant ist.
Die Liste der sympathischen
Gesetzesbrecher ist verhältnismäßig kurz. Zumeist handelt
es sich um Diebe, nette Gauner, die man um ihrer schelmischen Gewitztheit
willen bewundert. Dagobert, der Kaufhauserpresser, gehört zu dieser Elite.
Auch als Diktator hat man zumindest für einige Jahre die Chance, begeistert
umjubelt zu werden. Undenkbar jedoch, daß ein Sexualdelinquent es jemals
schaffen würde, in diese Hitliste aufzusteigen. Vor einigen Monaten ist
das Undenkbare geschehen: Der 17jährige Marco Weiss soll in der Türkei
in einem Hotelzimmer mit einer 13jährige Britin namens Charlotte sexuellen
Kontakt gehabt haben, während er mit seinen Eltern in einem Ferienressort
Urlaub machte. Jetzt sitzt er seit einigen Monaten im Knast und erwartet seinen
Prozeß.
You should
have told me that.
Freilich hat der Uelzener
Schüler nur wenig Ähnlichkeit mit einem der typischen modernen Sexualverbrecher,
von denen die Titelseiten der Boulevardpresse bevölkert werden, wie beispielsweise
dem ausgewiesenen Unsympath Mario Stephanie-Peiniger Mederake,
der sein Opfer wochenlang als Sexsklavin in einer Kiste eingesperrt gefangen
hielt und bei dem die Medien sich nicht scheuten, den gesetzestextlich korrekten,
sonst aber eher geschmähten Ausdruck seelische Abartigkeit
zu benutzen.
Als Letztes erregte ein
Brief von Marco an die 13-Jährige in den Medien Aufmerksamkeit, in der
er sich verwundert zeigt und um Gnade bettelt. Die türkischen Medien
sehen in dem Schreiben eine Entschuldigung. Tatsächlich aber spricht
aus ihm vielmehr Ratlosigkeit I dont know, why, heißt
es da und auch eine verschämte Anklage, daß sich die 13-jährige
Charlotte als 15-jährig ausgegeben hatte: You should have told
me that. Es ist gerade das Alter, an dem sich die Geister scheiden.
Und so ist der Fall Weiss rein rechtlich ein klarer Fall von Kindesmissbrauch
egal ob nach EU-, deutschem oder türkischem Recht.
Zunächst wurde die
Anklage des 17-Jährigen als Kuriosum der mutmaßlich rückständigen
türkischen Jurisdiktion deklariert. Daß indes auch nach deutscher
Rechtsprechung die Sache als sexueller Mißbrauch anzusehen ist, war
nicht nur den Medien von Bild-Zeitung bis Spiegel zunächst
unklar; auch die Politiker wußten augenscheinlich nicht mehr genau,
welche Gesetze sie erst vor kurzem erlassen hatten und entrüsteten sich
über die türkischen Rechtsgepflogenheiten und forderten, Marco Weiss
nach Deutschland auszuliefern, allen voran Außenminister Frank-Walter
Steinmeier.
Sex
mit U14: Kein Strafmaßdiscount
Wer sexuelle Handlungen
an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem
Kind vornehmen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten
bis zu zehn Jahren bestraft, heißt es dabei doch unmißverständlich
in §176 (1). Von einen Strafmaßdiscount in minder schweren
Fällen, wie er bei einigen anderen Delikten vorkommt, ist nicht
die Rede. Sex mit Personen unter 14 Jahren gibt es nicht zum Schnäppchenpreis.
Auch nicht in Deutschland. Allein das Jugendstrafrecht, das den Richtern einen
praktisch unbeschränkten Ermessensspielraum jenseits aller vom StGB geforderten
Mindeststrafen einräumt, könnte den minderjährigen Marco Weiss,
wenn er in Deutschland vor Gericht stünde, vor einer Verurteilung bewahren.
Ebenso wie es ihn auch zumindest vom Vorwurf des Vorsatzes entbünde,
wenn sich die 13jährige Charlotte ihm gegenüber tatsächlich,
wie er behauptet, als 15-Jährige ausgegeben hat.
Für den Gesetzgeber
sind Gewalt- und Sexualdelikte im Grunde zwei Paar Schuhe. Nicht jedes Sexualdelikt
geht per se mit manifester Gewalt einher. Insbesondere im Fall des sexuellen
Mißbrauchs von Kindern ist es dem Gesetzgeber gleich, ob dabei
körperliche oder psychische Gewalt zum Einsatz kommt oder nicht. Es ist
zudem egal, ob die andere Person Jahrzehnte oder nur wenige Jahre, Monate
oder Tage älter ist; und es ist gleich, ob die Person unter 14 Jahren
einwilligt oder nicht. Denn die schiere Fähigkeit zur Einwilligung in
eine konsensuelle sexuelle Interaktion sieht der Gesetzgeber erst ab einem
Alter von 14 als möglich an.
EU-Recht
à la Turka ...
Unlängst beteuerten
türkische Juristen, daß das Sexualstrafrecht der Türkei vor
kurzem den EU-Normen angeglichen worden sei. Der Fall Weiss also letzten Endes
nur eine Übereifrigkeit, um sich die EU-Mitgliedschaft zu erschleichen?
Dann ist der Schuß jedenfalls nach hinten losgegangen; gegen das übergeordnete
Ressentiment ist kein Kraut gewachsen. Was immer die Türkei tut, kann
gegen sie und ihre Bürger verwendet werden.
Nach Artikel 103 des erst
2005 letztmalig reformierten türkischen Strafgesetzes werden geschlechtliche
Handlung mit Personen unter 15 Jahren als sexuelle Ausbeutung von Kindern
angesehen. Das Strafmaß liegt zwischen drei und acht Jahren, kann aber
bei minderjährigen Tätern geringer ausfallen. In der
Tat sind diese Bestimmungen noch einen Zacken härter als
die des deutschen Strafgesetzbuches. Allerdings wurde das deutsche Sexualstrafrecht
in den letzten Jahren stetig verschärft; ein Trend, dessen Ende nicht
abzusehen ist (vgl. Schwerpunkt in Gigi Nr. 48, März/April 2007). So
berichtete die Nachrichtenplattform Telepolis erst kürzlich im Internet,
daß beispielsweise mit der geplanten rigorosen rechtlichen Gleichsetzung
aller kinder- und jugendpornografischen Erzeugnisse von
brutaler Säuglingsvergewaltigung bis hin eher harmlosen lasziven Bildern
von 17½-Jährigen schon das Nacktfoto der 16jährigen
Freundin den ebenfalls 16jährigen Jungen einer Strafverfolgung aussetzen
würde und so etwa Frustklagen nach gescheiterten Beziehungen im
Stile von mein Exfreund hat noch ein Nacktfoto von mir Tür
und Tor öffnen könnte.
Könnte etwas in dieser
Art auch in der Causa Weiss der Fall sein? Gekränkte Teenie-Ehre, schlechte
Erfahrungen beim ersten Sex werden de jure zu sexuellem Mißbrauch umdefiniert?
Glaubt man Marco Weiss, sei das Mädchen verärgert gewesen, weil
sie mehr von mir erwartete, wie er dem Spiegel zu Protokoll gab. Ob
in Zukunft die Gerichte dafür zuständig sein werden, die Probleme
hysterischer Teenies zu klären, bei denen die Hormone verrückt spielen?
Glaubt man allerdings
Charlottes Mutter, sieht es weitaus ernster aus aus. Sie sei entsetzt gewesen
über die Äußerungen ihrer Tochter über das Hotelzimmererlebnis.
Mittlerweile ist sie in psychologischer Behandlung. Zudem sei das Ganze gegen
ihren Willen geschehen was das Geschehen sogar zu einer Vergewaltigung
machen würde. Auch der Anwalt spricht mittlerweile davon. Eine medizinische
Untersuchung fand Spermaspuren, aber ein intaktes Hymen. Den deutschen Medien
ist dies alles aber im allgemeinen eher suspekt. Im Feuilleton mutmaßte
ein Autor, daß der Fall Weiss weniger mit der türkischen Justiz
zu tun habe und mehr eine britische Hysterie sei, die die Insulaner immer
dann ereile, wenn es um Sex geht. Weiß man ja.
...
aber bei sexueller Reifeprüfung im Strafrecht doch durchgefallen
Von politisch konservativer
Seite rollte man allerdings eine andere Interpretation auf: Der altbekannte
Zweifel daran, ob die Türkei reif für eine Mitgliedschaft in der
EU sei, bekam wieder einmal Aufwind, etwa durch den Chef der Unionsfraktion
im Deutschen Bundestag, Volker Kauder, und seine Parteikollegen. Daß
sich deutsche Politiker über den Fall ereifern, finden Juristen dagegen
eigenartig. Christoph Frank, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, zeigte
sich höchst verwundert angesichts der Überbewertung des Falls und
wies darauf hin, daß die deutsche Gesetzeslage der türkischen durchaus
vergleichbar ist. Folglich habe die Staatsanwaltschaft Lüneburg, welche
für Weiss Heimatort Uelzen zuständig ist, ihrerseits bereits
ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Ob allerdings die Verhältnisse
wirklich so ähnlich sind, wie die Juristen angeben, ist fraglich. Mag
auch die gesetzliche Grundlage durchaus analog sein, so scheint die Umsetzung
dennoch verschieden gehandhabt zu werden. Mittlerweile befindet sich Weiss
fast fünf Monate in Untersuchungshaft, was für deutsche Verhältnisse
sicherlich eher ungewöhnlich ist, ebenso wie die Ablehnung des Gesuchs
auf Freilassung gegen Kaution. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
wäre ein solches Vorgehen hierzulande vielleicht doch recht unüblich,
auch wenn bei einem Urlauber wie Weiss natürlich die Gefahr besteht,
daß er schlichtweg nach Deutschland abreist und somit flüchtet.
Nichtsdestotrotz ist es
doch verwunderlich, mit welcher Regelmäßigkeit bei jeder politischen
oder rechtlichen Bizarrität seitens der Türkei in Deutschland auf
ihre vermeintliche EU-Unreife hingewiesen wird. Ob man der Schweiz wohl die
Mitgliedschaft in der Europäischen Union verweigern würde wegen
eines zwei Jahre höheren Einvernehmlichkeitsalters von 16? Aber Spaß
beiseite, sowas Prüdes und Altbackenes wie die Schweiz, wollen wir ja
so oder so nicht in der Union.
Germanys
Favorite Kiddy Abuser
Eine ganz andere Problematik,
die der Fall in der Sache selbst aufwirft, die jedoch kaum thematisiert wird,
liegt indessen in der Zahlenmystik der willkürlichen Altersgrenzen im
Strafrecht im allgemeinen und im Sexualstrafrecht im speziellen. Daß
eine Person von einem Tag auf den anderen fähig wird, mit einer anderen
Person einvernehmlichen sexuellen Kontakt einzugehen, ist per definitionem
ein rechtliches Faktum, jedoch psychologisch gesehen und für den gesunden
Menschenverstand selbstredend Unsinn. Hätte sich der Vorfall genau ein
Jahr später ereignet, wäre er in Deutschland von vornherein kein
Fall für die Justiz geworden, jedoch in der Türkei infolge des um
ein Jahr höheren Schutzalters trotzdem strafrechtlich virulent. Diese
offenkundigen Ungereimtheiten auszubügeln obliegt dem richterlichen Ermessen.
Letztlich ein Balanceakt für die Rechtssicherheit.
Eine neue Dimension bringt
im übrigen das besorgte globalisierte Leservolk auf den Tisch, wie man
aus Leserbriefen und Kommentaren im World Wide Web erkennt: Wo war denn bitteschön
die Mama, die ihre Tochter im zarten Alter von 13 Jahren nicht rund um die
Uhr beaufsichtigt und offensichtlich zugelassen hat, daß sie sich ungehindert
in Diskotheken und Bars herumtrieb? Immerhin dieselbe Mutter, die die Anzeige
bei der türkischen Polizei veranlaßt habe. Dem nüchternen
Verstand des Otto Normalverbrauchers stößt dies sauer auf. Und
schon proklamieren einige, daß es allenfalls die Mutter sei, die man
gerechterweise strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen habe wegen
Vernachlässigung ihrer Aufsichts- und sonstigen elterlichen Pflichten.
Wär ja auch mal was.
Für alle Beteiligten zu hoffen bleibt letztlich nur, daß der Fall noch vor der medialen Ultimativverwurstung (als Pro7-Realityshow Germanys Favorite Kiddy Abuser) geklärt sein möge.