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Pfizers dunkle Engel

Es gab sie immer und wird sie wohl immer geben: selbsternannte Saubermänner, die den Volkskörper rein halten und alle irgendwie „Unreinen“ ausgrenzen oder zumindest unsichtbar machen wollen. Die Täter scheinen ebenso klar wie die Opfer. Um so peinlicher, aber auch unauffälliger ist es, wenn die neuen Täter aus den alten Opferreihen auferstehen. Ein Bericht aus den dümmsten Ecken der Schwulenszene von Florian Mildenberger

Als AIDS 1985 dies- und jenseits des Atlantiks wahlweise als veritable Gefahr für sexuell aktive Menschen oder ideales Vehikel zur Durchsetzung volksgesundheitlicher Zwangsmaßnahmen wahrgenommen wurde, breitete sich auch unter Schwulen eine gewisse Hysterie aus. Diese wurde teilweise in produktive Energie umgewandelt: AIDS-Hilfen wurden gegründet, Beratungsstellen errichtet oder Bündnisse mit politisch linken und liberalen Gruppen geschlossen, um so den Ansturm des „gesunden Volksempfindens“ abwehren zu können. Aber es gab auch damals schon genügend Personen, auf die eine kirchlich-konservative Propaganda mit Programmen wie „AIDS ist eine Strafe Gottes“ oder „Das ist der Lohn für Untreue und Vielfickerei“ ganz besondere Wirkung ausübte. Sie erklärten, nur garantiert HIV-negative Personen könnten und dürften in den AIDS-Hilfen tätig sein, sonst seien diese ja unglaubwürdig. Kneipenwirte sollten notfalls bei ungeschütztem Sexualverkehr im Dunkelzimmer einschreiten, um so die Weiterverbreitung von HIV zu unterbinden. Oder die Polizei und das Gesundheitsamt rufen, vielleicht die Auto-Nummernschilder der „Täter“ notieren. Denn auf diese Weise würde die Zahl der Infizierten sinken und der aufschäumende Volkszorn sich legen.

Das war Autosuggestion auf hohem Niveau. Hatte es nicht schon vor AIDS Voruteile und Haß gegen Schwule gegeben? Konnte man wirklich glauben wie einst Peter Gauweiler, mit ein wenig Ordnungspolitik sei ein tödliches Virus zu vertreiben? War Betteln um Brosamen, die vom Tisch der Mächtigen kullerten, wirklich die neue schwule Selbstverwirklichung? Die rosaroten Saubermänner entstammten der gesamten schwulen Welt, man fand sie in Lederkneipen an der Spree ebenso wie in Tuntenschuppen am Main, an den Stammtischen der AIDS-Hilfen und in politischen Zirkeln von maoistisch bis christlich. Sie empfahlen eine Art Treueschwur und Ficken nur noch in „gesunden Gruppen“. Wer nicht mehr „gesund“ war, wurde ausgeschlossen, verlor sein soziales Umfeld, verschwand in jeder Hinsicht.
Besonders aktiv waren diese Gruppierungen jenseits des Atlantiks in San Francisco und New York. Als ich 2006 die USA bereiste, bat mich ein befreundeter deutscher Sexologe, die Veteranen dieser Masturbationssekten aufzusuchen und zu befragen; er hatte eine ganze Reihe von Adressen. Leider unmöglich – die Leute waren alle gestorben, und zwar nicht an Gehirnerweichung sondern an den Folgen einer viralen Erkrankung.

Bis vor etwa zwei Jahren konnte man annehmen, daß derartiger Schwachsinn selbst in der an Irrtümern nicht armen schwulen Welt keine Wiederholung finden würde. Weit gefehlt! Heute heißen die Sektierer nicht mehr „Pink Panther“ oder „Sex-Security“, sondern „Dark Angel“. Die Mitglieder von „Dark Angel“ agieren unter Federführung der selbsternannten Gesundheitsplaner von „manCheck“. In einer online einsehbaren (www.mancheck-berlin.de) Selbstverpflichtungserklärung erklären die Mitstreiter, sie würden Erlebnisberichte über Szeneerfahrungen schreiben und diese könnten im Internet veröffentlicht werden – anonym. Es müßte anonymisiert heißen, weil sonst nur die Schreiber, nicht aber die im Text Betroffenen anonym bleiben. Oder ist das gewollt? Als Zuckerl gibt es Kondome mit Gleitcreme. Außerdem gibt man sich formal tolerant: „Ich werde andere akzeptieren, auch wenn sie anderer Meinung sind, meine Überzeugungen nicht teilen, keine Gespräche wollen“ (http://www.mancheck-berlin.de/darkangel/DA-Vertrag-ger.pdf). Es gibt also „andere“ Menschen, die nicht zu der fest umrissenen eigenen Gruppe dazu gehören. Sprache kann so verräterisch sein. Der „Andere“ ist der Fremde, derjenige, der außerhalb steht.

Die „Dark Angels“ fordern, den „Trend zu leben“, nämlich Safer Sex im Darkroom, auf Sexparties, in der Cruising Area. Das ist ein hehres Ziel, das Unterstützung verdient, gerade in einer Zeit, da die Aufklärungskampagnen nachlassende Wirkung zeigen. Umso trauriger ist es zu sehen, wie auf dieses Ziel hingearbeitet wird und welcher Unterstützung man sich versichert. Da sind die schwulen Hochglanzmagazine, die ohnehin nur den Lifestyle der oberen Zehntausend verkünden. Ganz vorne mit dabei ist ebenfalls der Pharmakonzern Pfizer, der neuerdings nicht nur Viagra, sondern auch Maraviroc im Angebot hat. Warum sollte ein Pharmakonzern eine schwule Gruppe unterstützen, die ihm potentielle Kunden abspenstig macht? Diese Frage scheinen sich Gründer und Mitglieder von „Dark Angel“ nie gestellt zu haben.
Variante 1: Die Werbefuzzis bei Pfizer haben klar erkannt: „Dark Angel“ ist eine bedeutungslose Splittergruppe mit ein paar Wichtigtuern an der Spitze, die aber im Trend liegen. In Zeiten der Ressourcenverknappung ist Gesundheit ein hohes Gut, das es zu bewahren gilt. Nebenbei kann sich Pfizer ein gutes Image verschaffen und es kostet eigentlich nichts.

Variante 2: Bei Dark Angel handelt es sich um ein zwar nicht ganz neues, aber bedeutsames Phänomen. „Dark Angel“ ist ganz anders als die AIDS-Hilfen, auch wenn die Idee zu dem Projekt ursprünglich 2006 in Kooperation mit den AIDS-Hilfen entstanden war. Vielmehr handelt es sich um eine hybride soziale Bewegung, die aber so präsentiert wird, als wäre sie aus der Jugend heraus entstanden. Deshalb hat sie Schwung – und ist leicht zu beeinflussen. Man hat ein einheitliches Logo, segelt unter der Flagge der sexuellen Freiheit und präsentiert sich glücklich schwul auf Gayromeo. Wenn „Dark Angel“ Erfolg hat und weiterhin – was die Mitglieder ja schon tun – in Kneipen geht, alle Leute, die nicht so sehr auf Kondome fliegen, hinausekeln, dann wird Sex wieder schmutzig, jedenfalls im realen Leben. In den Kneipen, auf Youngsterparties und im Discoklo wird mit Kondom gevögelt, weil dort das helle Licht des Blockwartes droht. Man nennt das bei „manCheck“/„Dark Angels“ gerne „Wirteselbstverpflichtung“ und der Mißstände meldende Jungschwulant wird zum „Sexpartysanen“ (http://www.mancheck-berlin.de/m_projekte/sexpartysanen.shtml), der aus dem Hinterhalt schießt und alles trifft, unter anderem auch den halluzinierten Gegner. Oder um es mit den Machern zu sagen: „Viva la libertá“ – es lebe die Freiheit.
Fragt sich nur, wessen Freiheit hier gemeint ist. Es werden besonders gefährdete Gruppen identifiziert, auch wenn man beim Lesen der Homepage von „manCheck“ vor allem den Eindruck gewinnt, es würden eigene Vorurteile repliziert: Schwule mit Handicap seien gefährdet. Sind sie etwa „anders“? Auch die Alternativ-Szene scheint besonders gefährdet (www.safety4free.de/). Weil man dort nicht alles glaubt, was die Presseabteilung von Pfizer erzählt? Dann muß die „Wahrheit“ eben aus spermalechzenden Jünglingsmündern kommen, damit sie glaubwürdig wird.

Wer es bis jetzt noch nicht begriffen hat: In ein paar Jahren haben alle Menschen nur noch Sex mit Gummi, es sei denn, sie wollen Kinder zeugen. So schön könnte die Welt der Zukunft aussehen, und es gibt sicher viele Mitstreiter von „Dark Angel“, die fest daran glauben, daß es so werden wird. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte aber lehren, daß sich das Problem lediglich verlagert. Nicht mehr in den Clubs und auf den Events wird ohne Gummi gevögelt, sondern wieder im Verborgenen. Zudem unterschätzen manch hyperaktive Mitglieder von „Dark Angel“ die Bedeutung des Begriffs „sexuelle Selbstbestimmung“, wenn sie beispielsweise an der Theke des Berliner Sexclubs „Ajpnia“ das Personal auffordern, mit der Taschenlampe dazwischen zu gehen, wenn im Untergeschoß einvernehmlich unsafer Sex praktiziert wird. Denn die korrekte Definition von Barebacking ist bei „Dark Angel“ offensichtlich unbekannt. Die sich bereits in letzter Zeit steigernde Propaganda der „Dark Angels“ könnte in der Szene gut und gern als Bevormundung aufgefaßt werden, unsafer Sex würde wieder verstärkt den Hauch des Verruchten und Interessanten erlangen. Dazu werden dann auch die Drogen konsumiert, die völlig zu Recht als besonders gefährlich gebrandmarkt werden (GHB). Der Blick in die USA zeigt auch, daß gerade selbsternannte Propheten bisweilen, arg vom Samenstau geplagt, hinter verschlossenen Türen und fernab der eigenen Kollegen die Sau rauslassen. Was geschieht? Die Infektionsraten steigen weiter stark an. Wer profitiert? Manch Arzneimittelfirma, die dann völlig selbstlos die „Dark Angels“ sponsert. Weil man ja nur Gutes tun will. Dank der neuen Medikamente bleiben die Betroffenen äußerlich gesund und können so ein Versteckspiel aufrechterhalten, das umso notwendiger ist, je mehr HIV-Positive ausgegrenzt werden. Sind sie „anders“? Je besessener die „Dark Angels“ gegenüber Wirten, in Kontaktforen oder im Kneipengespräch engagiert sind, je stärker ihr Drang zur Reinhaltung des Sex’ mittels des Kondoms wird, desto schneller nutzt sich ihre Argumentation ab.

Eventuell verfallen die edlen Kämpfer für die von ihnen definierte sexuelle Freiheit auf weitere Radikalisierungen. Ist es nicht angebracht, mit Behörden zu kooperieren, um zu beweisen, wie staatsbürgerlich Schwule sein können? Vielleicht mit der Handykamera im Darkroom filmen und dann Strafanzeige erstatten? Soll ja schon vorgekommen sein in Berlin. Das führt indes keineswegs zur Anerkennung, viel eher fallen Boulevardblätter über „die Schwulen“ her. Wenn sich erst einmal das „gesunde Volksempfinden“ entfaltet hat, können auch die eifrigsten Blockwarte der Gegenseite nicht mehr auf Gnade hoffen. Der soziale Druck von außen wächst, und anstatt den selbst mit angerichteten Wahnsinn zu stoppen, verfallen die staatlich alimentierten Betreuungsorgane der schwulen Welt auf die alte Masche der Gruppenbetreuung. Der Beratungsbedarf wird wachsen, die AIDS-Hilfen und Schwulenberatungen, die Gründungsmütter von „Dark Angel“, werden profitieren.
Wie werden wohl junge Schwule reagieren, wenn sie in Zeiten von wirtschaftlichen Krisen keine Zukunft für sich sehen und seitens der Gesellschaft nur vordergründig Akzeptanz erhalten, wenn sie gut verdienende und verpartnerte (unschwule) „Leistungsträger“ sind? Werden sie in der Hitze der Nacht stets der Gefahr durch unsichtbare Viren gewahr sein? Was passiert, wenn sie das nicht sind? Dann dreht sich das Rad weiter.

Das Projekt „Dark Angel“ ist ein sehr gutes Beispiel, wie schnell aus einem positiven Ansatz ein Instrument der Volksverblödung werden kann. Erstaunlich ist nur, wie wenig die Beteiligten über die Folgen ihres Tuns nachdenken, obwohl sie die Konsequenzen von Nachlässigkeit beim Geschlechtsverkehr in grellen Farben anprangern und so unter Beweis stellen, daß sie durchaus in der Lage wären, Folgeabschätzungen menschlichen Handelns zu treffen. Dies wirft die Frage nach den persönlichen und eventuellen materiellen Beweggründen der Macher von „manCheck“ und „Dark Angel“ auf. Die ganzen Mitläufer hingegen werden Jahre später wie auch schon andere Veteranen gescheiterter sozialer Bewegungen am Stammtisch hocken und sagen: „Wir haben es doch nur gut gemeint.“