Moritz Benedikt galt bereits zu seinen Lebzeiten als enfant terrible der Wiener Medizin (1). Nach seinem Tod verband man mit seiner Person wahlweise abwegige Studien über Wünschelruten oder aber eine veraltete Elektrotherapielehre. Weniger bekannt sind seine Einlassungen zur Homosexualität. Es erinnert an ihn Florian Mildenberger
Moritz
Benedikt (1835-1920) steht sozusagen stellvertretend für eine Vielzahl
zeitgenössischer Mediziner und ihre Haltung zur Homosexuellenfrage.
Anfang März 1901 wandte er sich im Rahmen seiner Kolumne in der Allgemeinen
Österreichischen Gerichtszeitung der Homosexualität zu. (2) Diese
plötzliche Aufmerksamkeit Benedikts für dieses Thema kam völlig
überraschend. Weder in seinen Studien über Verbrechergehirne. (3)
noch über Neurasthenie (4) hatte er sich mit der conträren
Sexualempfindung befaßt. Nur in seiner Abhandlung zur Seelenkunde
1895 hatte er kurz betont, jedem mit verkehrtem Geschlechtstrieb behafteten
Manne stehe die Möglichkeit zur Heilung mittels Kastration offen.
(5)
Der Grund
für Benedikts Hinwendung zum Themenkomplex Homosexualität ist wahrscheinlich
im Auftreten des Wissenschaftlich-humanitären Comiteés
von Magnus Hirschfeld zu sehen. Versuche konservativer Forscher, Magnus Hirschfeld
zu ignorieren oder herabzuwürdigen, scheiterten bis zum Frühjahr
1901, da sich maßgebliche Vertreter der Psychiatrie Hirschfelds Überlegungen
zur Angeborenheit der Homosexualität anschlossen. Benedikts Kollege Richard
von Krafft-Ebing ging gar soweit, den Sinn der Bestrafung homosexueller Delikte
gänzlich in Frage zu stellen.(6) Da sich Benedikt mit von Krafft-Ebing
ohnehin im Streit wähnte und zudem den Homosexuellen ablehnend gegenüberstand,
erschien ihm die Gelegenheit im Frühjahr 1901 günstig und angemessen,
auf das Anliegen Hirschfelds zu reagieren. Zunächst trennte Benedikt
in Degeneration und Verbrechen, wobei er betonte, es sei gänzlich falsch
einen minderwertigen Menschen als Geisteskranken einzustufen.
Erbliche Belastung dürfe keinen Nervenarzt veranlassen, einem Straftäter
Straflosigkeit zu gewähren. Bei Entarteten sei dies falsches
Mitleid: Das Schwein ist schweinisch, weil es ein Schwein ist, nach
seiner Anlage, seiner Entwicklung und bei jeder passenden Gelegenheit. Wir
hassen das Schwein deshalb nicht und wir strafen es nicht. Aber
wir laden es nicht in unseren Salon ein, sondern sperren es, wenn uns seine
Schweinerei stört, in den Schweinestall.(7)
Benedikt verwahrte sich gegen die Anschauung, Homosexuelle handelten aus unwiderstehlichem Zwang heraus. Vielmehr könnten sie wenn auch unter Qualen ihren Trieb beherrschen. Ansonsten stünde ihnen noch die Option der Kastration zu. Diese Vorgehensweise sei notwendig, da Homosexuelle ihre Erfüllung nur in der Jugendverführung fänden. Zur Erlangung dieses Ziels zögerten sie auch nicht, Nachwuchs zu zeugen und sich an den eigenen Kindern zu vergehen. Dies werde den Homosexuellen dadurch erleichtert, da die Spitzenkräfte der Wissenschaft offenbar den Bezug zur Realität, zum Volksgewissen verloren hätten, als sie die Petition gegen den §175 unterzeichneten. Wenn die Wissenschaft den Zusammenhang mit dem sittlichen Empfinden verliert und nur dialektisch weiterschließt, geräth sie leicht in schwere Irrtümer und summa injuria wird zum summum ius.(8) Abschließend forderte Benedikt ein Gesetz, das jeden Arzt verpflichte, sittlich kranke Patienten öffentlich anzuzeigen. Die Hoffnung, dadurch sowohl sich in den wissenschaftlichen Diskurs erfolgreich eingeschaltet zu haben als auch eventuell die Petition unterbunden zu haben, trog allerdings. Weder von Krafft-Ebing noch Hirschfeld selbst reagierten auf die Ausführungen Benedikts.
Daraufhin
äußerte sich dieser auch noch zur Ätiologie der Homosexualität,
die keinesfalls als Rückschritt in der Evolution gedeutet werden dürfe.
Homosexuelle seien vielmehr zwittrige Geschöpfe. Mit dieser Behauptung
befand sich Benedikt jedoch unbewußt im Kielwasser der Hirschfeldschen
Überlegungen. Gegen Ende des Jahres 1902 schließlich erfolgte die
einzige Reaktion des wissenschaftlich-humanitären Comités
auf die Angriffe Benedikts. Anstelle Hirschfelds rezensierte sein Mitarbeiter
Numa Praetorius (d. i. Eugen Wilhelm) den Artikel Sexuelle Perversität
und Strafrecht, ließ aber die übrigen Artikel außen
vor.(9)
Eugen
Wilhelm betonte, daß das Volksgewissen als Basis für
die Entwicklung eines fortschrittlichen Rechtsempfindens gänzlich ungeeignet
sei. Benedikts Argumentation mit der Verführung der eigenen Kinder treffe
viel eher auf Töchter zu, doch lasse der Kritiker diesen Aspekt erstaunlicherweise
völlig unerwähnt. Die Gefahr der Jugendverführung stehe zudem
in keinem Zusammenhang zur Bestrafung von homosexuellen Handlungen zwischen
erwachsenen Männern. Der Rezensent schloß mit den Worten: Entweder
kannte Benedikt die Verhältnisse nicht, dann durfte er überhaupt
nicht über Homosexualität schreiben, oder er kannte sie, dann konnte
er auch nicht im Unklaren über die Unrichtigkeit seiner Behauptungen
geblieben sein.(10)
Infolgedessen
könnten die Ausführungen des ansonsten hoch geschätzten Neurologen
Benedikt in diesem einen Falle nicht ernst genommen werden. Durch die Betonung
der Einzigartigkeit der Einlassungen wollte Wilhelm eventuell betonen, daß
er nicht an einer dauerhaften Gegnerschaft Benedikts interessiert war. Dennoch
enthielt die Rezension die kaum verhüllte Unterstellung der unwissenschaftlichen
Arbeitsweise. Durch Gerichtsgutachten beziehungsweise öffentliche Stellungnahmen
bei Verurteilungen homosexueller Triebtäter konnte Benedikt
aber weiter auf Profilierung hoffen. Seine Bemühungen, 1905 und 1907
in zwei aufsehenerregenden Prozessen Öffentlichkeit und Gericht negativ
im Sinne der Angeklagten zu beeinflussen, waren aber nur teilweise von Erfolg
gekrönt. Vor allem aber geriet Benedikt durch sein Eintreten für
Enthaltsamkeit oder Kastration bei Homosexuellen und Pädophilen in Konflikt
mit Karl Kraus, der in mehreren Aufsätzen Benedikt als rückschrittlichen
und fortschrittsfeindlichen Mediziner abkanzelte. Als Benedikt während
des Prozesses gegen den der Knabenschändung angeklagten Universitätsprofessor
Theodor Beer im Herbst 1905 wieder einmal ungefragt die Kastration als Heilmaßnahme
empfahl, empörte sich Kraus in drastischer Weise: Man weiß
nicht, ob man es mit einem albernen Ulk zu tun hat oder mit dem pathologischen
Exzeß eines Psychiaters, dessen Kuratelbedürftigkeit seit Jahren
auf allen Kongressen zum Himmel schreit. Tatsache ist, daß sich so aggressiver
Schwachsinn heute in die Öffentlichkeit wagt. Dieser Herr Benedikt hat
es offenbar mehr auf die Potenz als auf die Richtung der Homosexuellen abgesehen:
er fürchtet die Gefahr der Fortpflanzung, die im päderastischen
Geschlechtsverkehr gegeben ist. Oder glaubt dieser Arzt, daß durch die
Kastration die geschlechtliche Lust oder auch nur die technische Möglichkeit
geschlechtlichen Verkehrs beseitigt ist?(11)
Derartige Attacken seitens der Presse waren für Benedikt höchst ungewohnt und sicherlich eine neue Erfahrung. Sie erfolgten auch wieder, als er sich 1907 erneut in die Debatte um einen Sittlichkeitsprozeß einzuschalten versuchte. Daraufhin beendete Benedikt sein sexualwissenschaftliches Engagement endgültig und wandte sich in der Folgezeit Studien zur Biomechanik, Röntgendiagnostik und schließlich der Emanation und Rutenlehre zu. Kritiker urteilten: Mit fortschreitendem Alter trat nun eine gewisse Disharmonie seines geistigen Wesens in seinen Veröffentlichungen immer störender hervor.(12) In andere Worte gefaßt: Er wurde selbst ein Studienobjekt für Psychiater. Geistig umnachtet, aber in Freiheit, verstarb Moritz Benedikt 1920.
1 Erna
Lesky: Die Wiener Medizinische Schule im 19. Jahrhundert, Graz/Wien 1965,
S. 390.
2 Moritz Benedikt: Sexuelle Perversität und Strafrecht. Allgemeine Österreichische
Gerichtszeitung, 28.05.1901.
3 Moritz Benedikt: Anatomische Studien an Verbrecher-Gehirnen für Anthropologen,
Mediciner, Juristen und Psychologen bearbeitet, Wien 1879.
Derselbe: Über den heutigen Stand der Anatomie von Verbrechern. Wiener
Medizinische Presse (21) 1880, S. 236-238.
4 Moritz Benedikt: Über Neurasthenie. Wiener medicinische Blätter
(14) 1891, S. 33-34.
5 Moritz Benedikt: Die Seelenkunde des Menschen als reine Erfahrungswissenschaft,
Leipzig 1895.
6 Richard v. Krafft-Ebing: Neue Studien auf dem Gebiete der Homosexualität.
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen (3) 1901, S. 1-36, 5.
7 Moritz Benedikt: Degeneration und Verbrechen. Allgemeine Österreichische
Gerichtszeitung, 28.05.1901, S. 6.
8 Ebenda, S. 1.
9 Numa Praetorius: Schriften der Mediziner. Benedikt (Moritz, Wien): Juristische
Briefe V. Sexuelle Perversität und Strafrecht in der Allgemeinen Österreichischen
Gerichtszeitung, Nummer vom 2. März 1901. In: Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen (4) 1902, S. 781-787.
10 Ebenda, S. 787.
11 Karl Kraus: Sittlichkeit und Kriminalität, Wien/Leipzig 1923, S. 207.
12 Anonymus: Moritz Benedikt. Wiener Klinische Wochenschrift (33) 1920, S.
387-388, 385.