Tod in Jerusalem
Der
Mord am jüdischen Liebhaber eines arabischen Knaben als Symbol für
die Tragik des Nahostkonfliktes: Arnold Zweigs Roman De Vriendt kehrt
heim ist noch nach siebzig Jahren aktuell. Eine Buch-Empfehlung von
Stefan Broniowski
Der Mann
muß weg. So einer wie er darf nicht am Leben bleiben. Das Blut
dieses Hundes muß sehr bald vergossen werden, sagen seine Feinde,
und von denen hat de Vriendt sehr viele. Den einen ist er verhaßt, weil
er als gläubiger Jude Gegner des Zionismus ist, die anderen hassen ihn,
weil er als jüdischer Mann sexuelle Beziehungen zu einem arabischen Jugendlichen
unterhält. Im Sommer 1929 wird de Vriendt folgerichtig ermordet.
Arnold
Zweigs Roman De Vriendt kehrt heim erschien vor siebzig Jahren,
im November 1932. Die darin erzählte Geschichte geht auf einen wirklichen
Mordfall im Palästina der 20er Jahre zurück. Das Opfer war Jacob
Israel de Haan, geboren 1881 in Amsterdam, aus jüdisch-orthodoxer Familie,
studierter Jurist, verheiratet mit einer Christin, bekannt als Journalist
und Lyriker. De Haan war zunächst begeisterter Zionist, verließ
1918 Frau und Kinder, übersiedelte nach Jerusalem und unterrichtete an
der Gouvernment Law School.
Seine
Erfahrungen in Palästina ließen de Haan zum leidenschaftlichen
Antizionisten werden. Er schloß sich der Agudat Israel an, einer Vereinigung
ultraorthodoxer Juden, die den Zionismus bekämpfte, weil ihrer Überzeugung
nach nur der Messias die Verstreuten ins Gelobte Land heimholen dürfe,
das zionistische Projekt aber weltlich und gottlos sei und die Juden ihrer
religiösen Tradition entfremde. Auch die Einführung des Neuhebräischen
als Umgangssprache lehnte sie ab, sie konnte darin nur eine Entweihung und
Banalisierung der geheiligten Sprache von Bibel und Talmud erkennen. Der brillante
de Haan wurde zu einem der juristischen und publizistischen Führer der
Agudat und zu einem der meistgehaßten Männer in Palästina.
Im Juli 1924 wurde er umgebracht. (Zweig verlegt die Handlung ins Jahr 1929,
um die damaligen blutigen Unruhen in die Erzählung einbeziehen zu können.)
Die jüdische
Öffentlichkeit Palästinas machte für den Mord Araber verantwortlich,
genauer: die Familie jenes Jungen, dem de Haan Lehrer und Liebhaber war. Arnold
Zweig, den die außergewöhnliche und außergewöhnlich
widerspruchsvolle Persönlichkeit de Haans faszinierte, hatte von Anfang
an Zweifel an dieser Darstellung. Seine Romanfigur de Vriendt wird darum nicht
von moralisch empörten, in ihrer Ehre verletzten Arabern ermordet, sondern
von einem jungen jüdischen Einwanderer aus Osteuropa, der viele sozialistische
Phrasen im Kopf und viele antireligiöse Ressentiments im Herzen hat;
der konservative und ultraorthodoxe, anizionistische und araberfreundliche
de Vriendt wird ihm zum Inbegriff des Verhaßten, er erschießt
ihn. Zweigs Vermutung verfehlt die Wirklichkeit nur knapp. Tatsächlich
waren nicht Araber die Täter gewesen, sondern junge Zionisten, zwei Mitglieder
der Terrororganisation Haganah. Der Mord wurde erst vier Jahrzehnte
später aufgeklärt und die Mörder nie bestraft.
Ein
Mann sehr allein
De
Vriendt war ein Europäer und ein Orientale, ein Mann kühner Gedanken
und folgerichtiger Handlungen, ein Mann sehr allein, ohne Bundesgenossen,
und der kein Odium (keinen Haß, Anm.) scheute, wenn er seiner Überzeugung
nach handelte. Was Arnold Zweig an de Haan faszinierte und was er an
de Vriendt gestaltete, war das doppelte Leben: einerseits ultraorthodoxer
Agitator, andererseits freigeistiger Lyriker, einerseits Verfechter der strengsten
religiösen und moralischen Normen des Judaismus, andererseits zärtlicher
Geliebter eines arabischen Knaben.
Ich
war beides, der arabische (semitische) Knabe und der gottlos-orthodoxe Liebhaber
und Schriftsteller, gesteht Zweig in einem Brief an seinen Mentor Sigmund
Freud. Leider kommen sowohl die Liebesgeschichte als auch die wirklich bemerkenswerte
Figur de Vriendts im Roman zu kurz. Der Vriendt stirbt bereits ziemlich genau
in der Mitte des Romans, im Rest wird von der eigentlichen Hauptfigur, dem
britischen Polizisten Lollard B. Irmin, der Mord dann halbwegs aufgeklärt,
vor allem aber beschreibt Zweig ausführlich und eindrucksvoll das Palästina
der späten 20er und frühen 30er Jahre, wie er es selbst auf einer
Reise 1932 wahrgenommen hatte, und die dortige spannungsvolle Situation.
Dennoch
hat de Vriendt im Roman eine wichtige Funktion. Der Mord an ihm, der so tragisch
wie unvermeidbar scheint, symbolisiert auch die Verfahrenheit der Lage in
einem Land, in dem verschiedene politische, religiöse, kulturelle, ökonomische,
soziale und ethnische Kräfte um die Vorherrschaft stritten. Zweig war
zwar überzeugter Zionist, aber zugleich (wie etwa auch sein anderer Mentor,
Martin Buber) fest davon überzeugt, daß das zionistische Projekt
der Schaffung einer jüdischen Heimstätte nur dann gerecht
sein und Bestand haben konnte, wenn es mit der arabischen Bevölkerung
und nicht gegen sie verwirklicht wurde. Diese Überzeugung war bereits
damals minoritär. Die Realität in Palästina war eine scharfe
Konfrontation von Juden bzw. Zionisten einerseits, von Arabern andererseits,
während die britische Mandatsmacht teils vermittelnd, teils prozionistisch
wirkte (weil arabische Unabhängigkeit nicht in ihrem imperialen Interesse
lag).
Anhauch
der Vernichtung
Daß
der Mord an de Vriendt als Symbol der tragischen Konflikte im Palästina
jener Zeit (und im Grunde noch des heutigen) taugt, liegt nicht bloß
am Widerspruch von religiös-politischer Konservativität und abweichendem
Sexualverhalten, es liegt nach herkömmlicher Anschauung im Wesen dieses
Sexualverhaltens selbst, konfliktreich und tragisch zu sein und letztlich
tödlich. So wie de Vriendt eigentlich eine Nebenfigur ist, ist zwar auch
die Homosexualität nur ein Nebenthema zumal sie nur als Knabenliebe
vorkommt, als Verhältnis zwischen dem erwachsenen Mann Jizschak Josef
de Vriendt und dem heranwachsenden Knaben Saûd Ibn Abdallah Djellabi.
Aber als gläubiger Anhänger der Psychoanalyse versteht sich Zweig
darauf, den Narzißmus der Knabenliebe und den Todestrieb des Homosexuellen
herauszuarbeiten und dem unglücklichen Geschehen somit den Anschein des
Unvermeidlichen zu geben.
Wer als Erwachsener ein Kind mit Leidenschaft liebt, sucht in ihm sich
selbst
Ungeheuerlich ist der Vorgang an Erschütterungen. Die Naturgesetze
heben sich nicht leichtlich auf; und noch viel weniger findet sich in dieser
Liebesvereinigung etwas von Spiel, Lust und Übermut
Der Mensch,
der diesem Zwang verfallen ist, geht jedesmal, und er weiß es nicht,
durch den Schatten des Todes, jedesmal über die Grenze des menschlichen
Lebens, in den Anhauch der Vernichtung.
Die Nähe
der männlichen Homosexualität zum Tod ist ein klassischer Topos
der abendländischen literarischen Tradition. So meint denn wohl auch
die im Titel des Romans erwähnte Heimkehr de Vriendts vor allem
in Zweigs Worten seine Vereinigung mit der Urmutter, dem Tode.
Arnold
Zweig kehrt heim
Obwohl der Roman De Vriendt kehrt heim zweifellos prozionistisch gemeint war, führte die darin geäußerte Kritik an der jüdisch-palästinensischen Wirklichkeit und dem antiarabischen Kurs der Zionisten zu scharfer Ablehnung im Lande selbst. Das Buch wurde vernichtend besprochen und nicht ins Hebräische übersetzt. Als Zweig 1933 zur Emigration gezwungen wurde und endlich sein jahrelang gepredigtes Vorhaben einer Ansiedlung in Palästina verwirklichte, mußte er erfahren, daß er nicht willkommen war. Die Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland wurden vielfach als Jecken verspottet und sogar als Hitlerzionisten diffamiert. Zweig, der wegen eines schweren Augenleidens niemals richtig Iwrit lernen konnte, veröffentlichte weiter auf Deutsch und lebte weitgehend isoliert. Sein Unbehagen an den Verhältnissen im Lande wuchs. 1948 nahm er die Gelegenheit wahr, nach Deutschland (Ost) zurückzukehren, wurde Akademiepräsident, Nationalpreisträger und kulturpolitisches Aushängeschild der DDR. Seine zionistische Kritik am real existierenden Zionismus erfährt heute noch jeden Tag Bestätigung.
Arnold Zweigs Roman De Vriendt kehrt heim ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich: gebunden und broschiert beim Aufbau-Verlag, als Fischer-Taschenbuch sowie im Band 4 der Berliner Ausgabe, ebenfalls beim Aufbau-Verlag