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Wenn Priester zu sehr lieben

Pedro Almodóvars neuer Film ist vieles auf einmal: eine fellinineske Abrechnung mit der katholischen Kirche, eine Auseinandersetzung mit sexuellem Kindesmißbrauch, ein höchst vorsichtig konstruierter Beitrag zur Erzähltheorie und eine Rückkehr zur Fülle schwuler Erotik, meint Udo H. Badelt

Warum lieben wir Geschichten? Weil sie eine Flucht ermöglichen, raus aus der Gegenwart, aus Begrenzungen und Zwängen, in eine andere Möglichkeit. Der Geist geht auf Wanderschaft, schwingt sich von einer Figur zur nächsten, genießt den Beobachterstandpunkt und fühlt sich frei – zumindest, so lange die Geschichte anhält. Und deshalb verehren wir auch die Geschichtenerzähler, seien es Autoren, Regisseure oder ein guter Freund beim Abendessen. Wenn sie es schaffen, uns in eine andere Welt zu entführen, und dabei die verschiedenen Erzählstränge geschickt und anregend miteinander verbinden, wieder auflösen und wieder zusammenfügen, dann ist ihnen Aufmerksamkeit sicher. Darin dürfte sich eine moderne, Cinemaxx-geprägte Gesellschaft ihren Steinzeit-Vorfahren unterscheiden.

Pedro Almodóvar hat es bisher verstanden, wunderbare Geschichten zu erzählten: vom Madrider Großstadtleben, von der sozialen Lage vieler Spanier nach dem Tod Francos, von ungebändigter schwuler Leidenschaft, schillernden, großartigen Frauenfiguren, von Neurosen, Mutterschaft, AIDS, Tuntenträumen und sexueller Gewalt. Dieses Werk wurde zu Recht 1999 für „Todo sobre mi madre – Alles über meine Mutter“ mit einem Oscar gekrönt.

In seinem neuesten Film „La Mala Educaciòn – Schlechte Erziehung“ will Almodóvar zeigen, daß er auch allerhand von Erzähltheorie versteht. Während die früheren Werke mit Ausnahme von „Habla Con Ella“ (Sprich mit ihr) vergleichsweise linear aufgebaut sind, besteht „La Mala Educaciòn“ aus mindestens drei ineinander verschachtelten Erzählungen. Doch keine Bange: Mit ein wenig Aufmerksamkeit kann der Zuschauer die Konstruktionsweise schnell verstehen.
Enrique (Fele Martínez), ein junger, aufstrebender Regisseur im Madrid des Jahres 1980, bekommt Besuch von seinem Jugendfreund Ignacio (Gael García Bernal), der ihm das Manuskript für einen neuen Film vorlegt, in dem er selber mitspielen möchte. Doch Enrique ist skeptisch: Nichts im Gesicht des Fremden erinnert ihn an seinen Freund, den er seit sechzehn Jahren nicht gesehen hat. Als Kinder besuchten beide das gleiche katholische Internat und entdeckten gemeinsam, was es heißt, sich ineinander zu verlieben. Doch der pädophile Schuldirektor, Padre Manolo (gespielt von Daniel Giménez-Cacho) war genauso in Ignacio verliebt wie Enrique und sorgte dafür, daß sein Nebenbuhler der Schule verwiesen wurde. In dem Skript hat Ignacio die Geschichte ihrer Kindheit zu einem Drehbuch verarbeitet. Was Enrique nur ahnt, aber noch nicht weiß: Der echte Ignacio ist seit drei Jahren tot, und ihm gegenüber sitzt in Wahrheit Ignacios Bruder Juan ...

„La Mala Educacion“ kann man lesen als den Versuch eines weltberühmt gewordenen Regisseurs, seine Wurzeln wieder aufzusuchen und zu gucken, was davon noch da ist. Doch natürlich kann und will Almodóvar nicht hinter seine Entwicklung in den 90er Jahren zurückfallen. „Eduacion“ ist wesentlich geschmeidiger und schöner erzählt als so mancher Streifen aus den 80er Jahren. Aber der Humor von damals ist leider nicht mehr wiedergekommen, auch nicht in Ansätzen, und auch zur Großstadt Madrid ist Almodóvar nicht zurückgekehrt. Dafür dürfte es sich um seinen schwulsten Film seit langem handeln. Man muß wohl bis „La Ley del Deseo – Das Gesetz der Begierde“ aus dem Jahr 1986 zurückgehen, um in seinem Werk einen Film zu finden, der ähnlich prall mit Homoerotik gefüllt ist. Das erstaunt, spielten doch die Frauen in seinen Filmen bisher stets die Hauptrollen. In „La Mala Educaciòn“ agieren jedoch – bis auf Ignacios und Juans Mutter – fast ausschließlich Männer. Und – claro – auch alle weiblichen Gestalten auf der Bühne sind in Wahrheit Männer. Die Grenzüberschreitungen zwischen den Geschlechtern, wie sie zum Beispiel Antonia San Juan als Transsexueller Agrado in „Alles über meine Mutter“ perfekt verkörperte, findet sich hier wohl am ehesten in der Gestalt des Juan wieder, der in dem Film, den Enrique schließlich dreht, seinen eigenen Bruder als Transvestit Zahara spielt.

Es gibt Einstellungen, die sich bei Almodóvar stets wiederholen. Der Regisseur liebt es, weibliche oder „weiblich“ spielende Schauspieler in ihrer Garderobe beim Abschminken zu zeigen – vielleicht wäre dies gelegentlich ein Thema für eine filmwissenschaftliche Dissertation. Und auch auf Almodóvars Ästhetik kann man sich jederzeit verlassen. Wer jemals in einen Film stolpern sollte, ohne zu wissen, in welchem er sich befindet, und dann perfekt aufeinander abgestimmte Wohnungseinrichtungen sieht, in denen sowohl bei Farbe als auch Form wirklich alles paßt, darf sich ziemlich sicher sein, in einem Almodóvar-Film geraten zu sein. Auch bei „La Mala Educaciòn“ steckt die äußerste Überlegung in der Farbwahl des Telefons, den Mustern des Vorhangs und der Küchenkacheln, der Anordnung der Lampen im Zimmer. Sollte der Regisseur womöglich mit diesem strengen Willen zur Schönheit, welcher bei ihm selbst in den ärmlichsten Hütten herrscht, das Zerrissene und Ruinöse im Leben seiner Figuren noch viel deutlicher hervorbringen wollen? Ignacios Leben nämlich – und auch das von Padre Manolo – ist mindestens so zerrissen wie das Papier, auf dem zu Beginn des Films die Credits eingeblendet werden.

Als Kommentar zur Problematik sexueller Gewalt gegen Kinder taugt der Film allerdings nur bedingt. Sicher wird überdeutlich, daß die „schlechte Erziehung“ sehr viel dazu beigetragen hat, Ignacios Leben zu versauen. Aber eine gelungene Charakterstudie ist es nicht. Was der Mißbrauch wirklich im Gemüt des jungen Ignacio anrichtet, bleibt für die Zuschauer im dunkeln. Und auch Padre Manolos Gesicht bleibt eine Maske. Weiß er, daß sein Handeln verwerflich ist? Denkt er, es ist es nicht? Bereut er sein Tun? Beim Publikum werden weder Haß noch Verständnis oder gar Mitleid – was ja auch möglich gewesen wäre – für den Padre geweckt. Und später, als der echte Manolo – nicht der aus Enriques Film – selber zum Opfer einer Erpressung wird, denkt man, er habe diese Rolle fast gerne inne. Er stellt sich Enrique sogar als „der Bösewicht aus Ihrem Film“ vor. Das ist von Almodóvar arg dick aufgetragen und von Lluis Homar gar nicht gut gespielt.

Was indes Spaß bereitet, das ist Almodóvars Aufmerksamkeit für kleinste Details – etwa wenn Ignacio/Zahara nach vielen Jahren Padre Manolo wieder aufsucht und diesen beobachtet, wie er während einer Zeremonie immer wieder „Herr, ich bin schuldig“ murmelt. Zahara wiederholt dieses „Ich bin schuldig“ und entlarvt damit die hohlen Gottesdienst-Phrasen des Priesters als echt. Oder wenn Enrique sich beim Orgasmus in Juan ergießt und gerade auf dem Höhepunkt davon spricht, daß er in einen Abgrund stürzt. Das ist der leidenschaftliche Almodóvar, von dem man wieder mehr sehen möchte. „La Mala Educaciòn“ ist kein neuer Höhepunkt in seinem Schaffen, aber er weist in die richtige Richtung.